Johann Sebastian Bach ist im 21. Jahrhundert angekommen

Musik

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Wenn Bach und Detroit Techno sich vereinen, ist vermutlich Francesco Tristano am Werk. Der junge Komponist und Pianist kennt keine Berührungsängste.

  • Gemeinsam mit der Zuger Sinfonietta interpretierte Francesco Tristano Bachs Barock­musik für einmal ganz neu und ungewohnt. (Bild Stefan Kaiser)
    Gemeinsam mit der Zuger Sinfonietta interpretierte Francesco Tristano Bachs Barock­musik für einmal ganz neu und ungewohnt. (Bild Stefan Kaiser)

Zug – Am Freitag war der 32-jährige Luxemburger zusammen mit der Sinfonietta Zug in der Chollerhalle zu erleben – erwartungsgemäss ein Spektakel für Aug und Ohr. Das Konzept des Pianisten ist simpel: Treibende Beats treffen auf warme klassische Klänge. Für die Beats sorgte er selbst, für die warmen Klänge setzte man auf Bewährtes: Die Sinfonietta Zug liess sich auf das Experiment Bach vs. Techno/Dance ein. Und das Experiment ist mehr als geglückt. Bereits eine Stunde vor Konzertbeginn füllte sich die Chollerhalle, und zu Cüpli und angeregten Gesprächen im Vorfeld spielte – quasi als Vorgruppe – im Foyer Joel Gilardini. Dieser selbst bezeichnet sich als Klangkünstler und Sound-Experimentalist, was seine Art von Musik ziemlich treffend beschreibt. Mit einer Gitarre, diversen Loopgeräten und anderen technischen Gerätschaften schaffte es der 33-Jährige aus Zürich, einen sphärischen Klangteppich live vor Ort zu erzeugen, welcher akustisch unmittelbar auf die aktuelle Stimmung der Konzertbesucher im Foyer einwirkte.

Dance/Klassik-Hybrid

In der praktisch ausverkauften Chollerhalle trat dann pünktlich der eigentliche Star des Abends auf: Francesco Tristano. Im Alter von fünf Jahren hat der Musiker bereits Klavierunterricht genommen, mit dreizehn dann seine eigenen Kompositionen vor grossem Publikum präsentiert. Diese Sicherheit merkte man dem Künstler an; souverän begann er mit den ersten Beats, und die Sinfonietta spielte dazu, als ob die Streicher nie etwas anderes machen würden. Überhaupt merkte man den Musikern an, dass sie sichtlich Freude an der Herausforderung, den musikalischen Freiheiten und der für sie eher ungewohnten Lokalität hatten. Die Kleidung der Sinfonietta war zwar wie gehabt schwarz, sass aber lockerer als auch schon. Und der Dirigent – bisher noch nie gesehen – begann gar bereits während des ersten Stückes zu tanzen. Also quasi, denn er musste ja noch immer dirigieren, und das war bei dieser Fusion von Klassik und Dance keine leichte, dafür aber schweisstreibende Aufgabe. «Bach war eigentlich der erste ‹Remix›-Künstler, er hat sich grosszügig bei anderen Komponisten wie Vivaldi bedient und daraus etwas anderes kreiert», sagte Tristano am Konzertabend und erklärte weiter: «Bach zelebrierte zu seiner Zeit auch den Mini­malismus – das hat mich dazu inspiriert, ebenfalls minimalistisch zu arbeiten.» Das Ergebnis war am Freitag hörbar: klare Klänge, starke Melodien und eine letztendlich fantastische Symbiose mit der Sinfonietta. 

Bewährtes Konzept

Muss man Barockmeister Bach denn überhaupt ins 21. Jahrhundert übersetzen? Natürlich nicht. Aber man darf das, vor allem, wenn es so aufregend geschieht wie unter Francesco Tristano. Was der musikalische Grenzgänger mit den verschiedenen Genres anstellt, klingt live (Tristano hat bis dato über zehn Tonträger veröffentlicht) unkonventionell und doch erstaunlich harmonisch. Natürlich und spielerisch schmiegen sich die Streicher und sein Klavierspiel an elektronische Sequenzen, und bald stellt man fest, dass das Konzept akustisch passt. Tristano gilt nach wie vor als einer der «Jungen Wilden» in der Klassikszene, dabei ist die Idee des Luxemburgers nicht neu: Diverse Künstler vor ihm versuchten sich schon an «Cross-over»-Projekten. Legendär sind beispielsweise die britischen Art Of Noise, welche nicht nur musikalische Grenzen ausloteten, sondern vor allem in den frühen 1990er-Jahren ihre Soundcollagen mit spektakulären Videoclips vertonten. Das kam bei der MTV-Gene­ration an – entsprechend legten Art Of Noise 1999 mit dem von Kritikern hochgelobten Album «The Seduction Of Claude Debussy» nach. Art Of Noise haben sich als gesichtslose Anti- oder Non-Group in Szene gesetzt, die Künstler trugen Masken.

Tristano geht da anders vor: Er zeigt sich charmant und weiss sich in Szene zu setzen. Er gibt seiner Musik und seinem Konzept ein Gesicht: nämlich sein eigenes. Und das kommt an. Ein attraktiver junger Musiker, der sich sowohl in der E- als auch in der U-­Musik sichtlich wohl fühlt (er selbst würde diese Grenze wohl kaum goutieren), und diese Selbstverständlichkeit übertrug sich am Freitag auch auf das Publikum: Plötzlich war es normal, Bach in einer «Remix»-Version und mit synthetischen Beats unterlegt zu hören. Als ob Bach es seinerzeit genau so gewollt hätte. (Haymo Empl)