Nichts wie weg vom gewalttätigen Ehemann

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Nicht immer sind es Kriege, welche Menschen in die Flucht treiben. Manchmal ist es auch die Gewalt innerhalb der Familie, die zur tödlichen Gefahr wird.

Zug – Mit einer Szene wie aus dem alltäglichen Leben gegriffen so beginnt der argentinische Spielfilm «Refugiado»: Der achtjährige Matias wird nach Schulschluss nicht von seiner Mutter abgeholt. Alle warten, schliesslich fährt die Lehrerin den Jungen nach Hause. Erzählt wird das ganz ruhig, die Kamera fängt die Szenen im Totalen ein, ohne Fokus. Umso mehr hat man das Gefühl, hier keinen Spiel-, sondern eigentlich einen Dokumentarfilm zu sehen. Und was den achtjährigen Matias dann zu Hause erwartet, ist zwar Fiktion, könnte aber leider durchaus Realität sein: Er findet seine Mutter blutend in den Scherben des Badezimmerspiegels liegend vor – der gewalttätige Ehemann ist dafür verantwortlich. Der Ehemann ist nicht mehr da – ein bewusster Entschluss des Regisseurs: «Refugiado» (zu Deutsch: Flüchtling) will die Spuren von Gewalt zeigen, nicht die Gewalt selbst.

Regisseur Diego Lerman erklärt: «Der Film beschreibt die Auflösung einer Familie.» Und fügt an: «Mich haben die kleinen Dinge interessiert, die diesen Zerfall prägen.» Matias und seine schwangere Mutter Laura fahren ins Spital, wo Laura untersucht wird. Danach finden sie Zuflucht im Frauenhaus. Die kleinen Dinge: Matias macht Pipi in die Hose. Ein sehr kleines Malheur im Vergleich zu den Verletzungen seiner Mutter. Diese neckt ihn, er sei halt doch noch ein Knirps. «Ich bin kein Knirps», entgegnet der Achtjährige aufgebracht. Seite an Seite flieht er mit seiner Mutter vor dem Vater. Dabei sieht er aus wie ein Engel mit seinen Pausbacken und dunklen Locken. Den Vater fragt er am Telefon mit dem Verstand eines schon älteren Knaben: «Wenn du sie liebst, warum schlägst du sie dann?»

Sebastian Molinaro als Matias und Julieta Diaz als Laura tragen den Film mit einem sehr dichten und gleichzeitig unaufgeregten Spiel. Den Film aus der Sicht des Jungen zu erzählen, stand für Regisseur Diego Lerman von Anfang an fest: «Wenn mich etwas zutiefst bewegt und fasziniert, dann ist es der unschuldige, reine Blick der Kinder, dieser von den Erwachsenen noch nicht kontaminierte Ort, von dem aus sie die Wirklichkeit betrachten und gestalten.» Und so flieht der Zuschauer stets aus Matias’ Perspektive durch die Nacht, durch das graue Buenos Aires, in dem nie die Sonne scheinen will. Von der Wohnung zum Frauenhaus, vom Frauenhaus zum Arbeitsplatz der Mutter, von dort in eine Pension, von dort in ein Stundenhotel. Der Vater scheint den beiden immer auf den Fersen zu sein. Erst als sie endlich im Zug auf dem Weg zu Lauras Mutter sitzen, schimmert es plötzlich leicht durchs Grau, etwas Hellblau färbt den Himmel freundlich ein, und durch Lauras Haare fährt ein frischer Wind.

«Refugiado» (2014) erhielt beim Filmfestival Havanna den Unesco-Preis und beim Filmfestival Chicago den Spezialpreis der Jury. Diego Lerman hat für seinen vierten Film drei Jahre lang recherchiert, Frauenhäuser besucht und mit von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen gesprochen. Seine traurige Erkenntnis: «Allein in Argentinien verliert alle dreissig Stunden eine Frau ihr Leben als Opfer von häuslicher Gewalt. Häusliche Gewalt ist weltweit ein Thema und zieht sich durch alle sozialen Schichten.» (Susanne Holz)

Hinweis
«Refugiado» im Kino Fliz: Montag, 11. Mai, um 20 Uhr, im Kino Gotthard in Zug. Anschliessend Gespräch mit einer Vertreterin von «Herberge für Frauen» und einem Vertreter von «Männer Beratung Gewalt».