Gefangen in einer «Männerwelt»

Literatur & Gesellschaft

,

Einen Tag nach der Zürcher Vernissage seines druckfrischen Romans «Kraft» las Jonas Lüscher in der Bibliothek Zug. Die literarische Gesellschaft hatte dazu eingeladen.

Zug – Die zugleich einfachste und – aus der weiblichen Perspektive der Journalistin – treffendste und resümierende Frage kommt ganz am Schluss aus der Zuhörerschaft: «Ist es nicht eine absolute Männerwelt, die Sie in Ihrem Roman nachzeichnen?» Eine Frau hat gefragt, und Jonas Lüscher stimmt ihr sofort zu.

Sein Buch heisst «Kraft» und erzählt die Geschichte eines Tübinger Rhetorikprofessors, der von seinem alten Weggefährten István, Professor an der Stanford University, zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Preisfrage ins Silicon Valley eingeladen wird. Eine Million Dollar hat ein Internetmogul ausgeschrieben für die Antwort auf die Frage, warum alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können. Diese Frage, angelehnt an Leibniz’ «Theodizee-Frage», ist ursprünglich eine theologische und beschäftigt die abendländische Philosophie seit Jahrhunderten und in vermehrtem Masse nach historischen Katastrophen wie dem Holocaust: «Warum lässt Gott, wenn er doch allmächtig und allgütig ist, das Böse in der Welt zu?» Die Frage führt immer zu unlösbaren Widersprüchen. Professor Kraft, in zweiter Ehe unglücklich verheiratet und finanziell gebeutelt, reist nach Kalifornien, um in einem 18-minütigen Vortrag seine Lösungsversion zu präsentieren – in der Hoffnung, sich mit dem Preisgeld von seiner anspruchsvollen Frau freizukaufen. Er ist also unter Druck.

Lüscher liest aus seinem 4. Kapitel

Diese Kombination ist bereits tragikomisch. Und Lüschers Roman eine Wirtschafts- und Wissenschaftssatire ersten Ranges: Er begleitet die Reise Krafts nach Kalifornien, in dieses Mekka des amerikanischen Markt- und Machtliberalismus; er beobachtet distanziert, aber nicht empathielos, was ihm dort begegnet, sein gequältes denkerisches Forschen, die zunehmende Lähmung und Verlorenheit, welche zahlreiche Flashbacks in die eigene biografische und die kollektive politische Vergangenheit evoziert. Lüscher beherrscht einerseits eine fast Kleist’sche Sprache, hat aber auch einen grossen «filmischen» Sinn für Szenen und Bilder. Er kennt die Welt, die er beschreibt, aus eigener Anschauung: die von jesuitischen «Padres» geleitete Münchner Hochschule für Philosophie, Wirtschaftsschulen und Filmwirtschaft, ETH und Stanford University. Und die Diskrepanz zwischen europäischem «Voltaire-Pessimismus» und amerikanischem ungebremstem Fortschrittsoptimismus. Im Interview fällt natürlich der Name «Trump». Es ist eine Männerwelt – zu 95 Prozent, wie Lüscher sagt. Immer noch mächtig – trotz Finanzkrise. Eine Welt viriler Egos, im Kopf, im Akademischen, im Körperlosen, in zerbrochenen Beziehungen.

Jonas Lüscher liest aber aus seinem 4. Kapitel: Der Denker Kraft, immer kraftloser geworden, versucht seiner Krise zu entfliehen, indem er einen Ruderausflug macht und dabei verunfallt. Er verliert das Boot, seine Hose, ist verletzt, blutet, gerät in Strudel und Strömungen, muss sich vor Seehunden hüten und schwimmend aus eiskaltem Wasser, Schlick und Schlamm befreien. Und auf einmal ist alles körperlich und – endlich: «Wird sie von seinem plötzlichen Tod lesen können? Oder von seiner beschämenden Rettung?» Sie – seine erste Liebe. Tod oder Scham – was ist schlimmer für einen Mann?

Jonas Lüscher fasst am Ende seines Vortrages zusammen: «Mein Buch ist eine Kritik an den Auswüchsen der akademischen Silicon-Valley-Welt, an einem bestimmten Typus Mann darin und an dessen Frauenbeziehungen.» (Dorotea Bitterli)