Seine stete Suche nach Neuem

Musik

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Mit seinem weltberühmten Ensemble erntete Gidon Kremer Begeisterungsstürme: In der Pfarrkirche St. Martin spielte die Kremerata Baltica ein spannungsreiches Kontrastprogramm. Der Anlass war ein Jubiläum im doppelten Sinne.

  • Gidon Kremer beim Handschlag mit dem ersten Geiger Bidva Dzeraldas. In Baar gab der Lette mit seiner Kremerata Baltica eines von zwei Schweizer Konzerten im Rahmen der Jubiläumstour. (Bild Stefan Kaiser)
    Gidon Kremer beim Handschlag mit dem ersten Geiger Bidva Dzeraldas. In Baar gab der Lette mit seiner Kremerata Baltica eines von zwei Schweizer Konzerten im Rahmen der Jubiläumstour. (Bild Stefan Kaiser)

Baar – Er war da. Und hat Eindruck hinterlassen. Und mit ihm seine exzellenten Musiker. Gerade mal zwei Schweizer Auftritte stehen auf dem aktuellen Programm von Gidon Kremer und seiner Kremerata Baltica; einer davon war am Mittwochabend in Baar.

Das hochkarätige Kammerensemble aus dem Baltikum ist aktuell auf seiner Jubiläumstour quer durch Europa unterwegs: 20 Jahre Kremerata Baltica, und ihr Schöpfer Gidon Kremer ist im Februar 70 geworden. Zelebrieren im doppelten Sinne.

Da war noch Platz

Wo der lettische Ausnahmeviolinist Kremer mit seinen jungen Ausnahmemusikern spielt, da platzen die Häuser aus allen Nähten – nur in Zug verhält sich das stets anders. Mehrere Bänke der rund 800 Personen fassenden Pfarrkirche Baar blieben am Mittwochabend leer, viele waren nur zur Hälfte besetzt. Es ist das altbekannte Zuger Phänomen: Nicht mal Weltstars sorgen hier für ein volles Haus. Nichtsdestotrotz zeigte sich Samuel Steinemann, Intendant der das Konzert organisierenden Theater- und Musikgesellschaft Zug (TMGZ), zufrieden mit dem Publikumsaufmarsch. Dass Plätze frei geblieben sind, sei wohl dem Umstand geschuldet, dass die TMGZ wegen des Casino-Umbaus derzeit sämtliche Veranstaltungen auslagert. Und dass ein Konzert dieser Klasse in einer Pfarrkirche stattfinde, sei für die Leute ungewohnt.

Tant pis! Wer da war, dem wurde geboten, was man von einer Kremerata Baltica erwarten darf. Das Programm gestaltete sich Kremer-typisch: kontrastreich, epochenübergreifend, stilistisch und geografisch unterschiedlich verortet. Ein «Sandwichkonzert» mit mehreren Lagen, ein Wechselspiel von Klassik und Moderne. Es ist eines von Gidon Kremers grossen Verdiensten, dass das westliche Europa und der Rest der Welt auf bedeutende zeitgenössische Komponisten Russlands und des Baltikums aufmerksam wird und geworden ist. Auch Georgs Pelcis (*1947) gehört zu ihnen, dessen sphärisch kolorierter «Last Song» elegisch und verträumt den Auftakt stellte mit der Solistin Clara-Jumi Kang an der Violine. Von höchster Brillanz waren die Legati und die flirrenden Sequenzen, welche die 30-jährige Deutschkoreanerin aus ihrer 300-jährigen Stradivari holte.

Als zweiter Solist setzte sich Pablo Ferrández ins Licht – für Haydns C-Dur-Cellokonzert: virtuos, notenlos und führerlos. Die Musiker der Kremerata sind bekanntlich so weit aufeinander eingespielt, dass flüchtige Blickkontakte jeden Taktstock überflüssig machen. Für das lange als verschollen gegoltene Cellokonzert erwies sich die Kulisse der Baarer Pfarrkirche als der denkbar festlichste Rahmen. Das an Melodik überbordende Meisterwerk entstand in Haydns frühen Dienstjahren am Hofe der Esterházy. Auch Ferrández spielte auf einem bedeutenden historischen Instrument: Sein Violoncello von 1696 kommt ebenfalls aus der Stradivari-Dynastie. In seinem souveränen Spiel schwang der Geist der Jahrhunderte spürbar mit.

Auch Giya Kancheli (*1936), gebürtiger Georgier, würde ohne den Entdeckergeist Gidon Kremers und dessen stetes Streben nach Neuem nicht die Beachtung zuteil, welche er heute hat. Für das Orchesterstück «Twilight» trat Meister Kremer an diesem Abend erstmals in Erscheinung, an seiner Seite Clara-Jumi Kang als zweite Solistin. Die zarten Klangteppiche und die filmmusikalisch anmutende Dramatik von «Twilight» erwiesen sich allerdings bald als etwas arg langatmig mit nicht enden wollenden Variationen ein und derselben Tonfolge. Gidon Kremer reizte dabei sein Instrument bis in die höchstmöglichen Tonlagen aus und demonstrierte eindrücklich, wie sauber sich ein Topinstrument selbst in solchen Frequenzen noch spielen lässt.

Kremers Hang zum Unkonventionellen

Gidon Kremer hat sich nie in einem Schema festsetzen lassen. Seine Eigenwilligkeit und sein Durst nach Neuem, nach Unkonventionellem waren ihm stets treue Begleiter. Nicht selten sorgte dies selbst im aufgeschlossenen Westeuropa für Nasenrümpfen und Kopfschütteln. Aber schlussendlich ist es gerade das, was den zielstrebigen Letten so charakteristisch macht. Einer solchen Unkonventionalität verpflichtet war auch Schuberts C-Dur-Fantasie – dies quasi im doppelten Sinne. Denn mit diesem Werk distanzierte sich der Komponist damals bewusst von der Form der Fantasie, wie sie in den 1820er-Jahren en vogue war, indem er das Werk strenggegliedert aufbaute und ihm vier Sonatensätze zu Grunde legte. Gidon Kremer spinnt das «Untypische» weiter: Er führt dieses bedeutende Schubert-Werk für Violine solo und piano in einer modernen Fassung auf, in welcher der Pianopart von einem Streich­orchester übernommen wird. So erhalten zahlreiche Passagen der Fantasie derart beschwingt-selige Züge, dass sie durchaus Parallelen zu der damals im biedermeierlichen Wien erblühenden Lanner-Ära zu Tage legen.

Argentinische Weisen

Ein letzter frappanter Stilbruch: Argentinische Schwermütigkeit, gepaart mit elektrisierendem Temperament, es geht durch Mark und Bein – das kann nur Astor Piazzolla sein. «Celos» und «Grand Tango» liessen den Kirchenraum zuweilen erbeben, so feurig, dann wieder so lieblich wie leidenschaftlich. Jetzt kam auch der dritte Solist zu seinem Hauptauftritt: Am Vibrafon hauchte Perkussionist Andrei Pushkarev den Rhythmen eine geheimnisvolle Note ein, wie sie in der klassischen Instrumentierung in derlei Manier fehlen würde – heller Glockenklang. Abermals flammte Kremers Lust am Neuen, Ungewohnten, anderen auf.

Akustisch ein Volltreffer

Die Reaktionen des Publikums sprachen für sich: ausgiebiger Beifall für jeden der Solisten und für das ganze Orchester sowie stehende Ovationen zum Schluss. Aber was hätte man anderes erwartet? Die Baarer Pfarrkirche als Alternativbühne war zweifels­ohne ein Glücksfall. Nicht nur dass die Kirchgemeinde ihren Sanktus dafür gab – üblicherweise dürfen für Konzerte in der Kirche lediglich Kollekten gesammelt werden –, sondern auch bezüglich der Akustik hätte man in der Umgebung schwerlich Idealeres finden können. Alles in allem eine Darbietung allererster Güte, höchster Qualität, höchsten Genusses. (Andreas Faessler)