Als Klein Jesus schon stehen konnte

Dies & Das

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Die Neuheimer Muttergottes zog einst viele Menschen in die Berggemeinde. Die Statue ist viel älter, als sie scheint – und zeichnet sich durch ein besonderes Merkmal aus.

  • Die einst viel verehrte Gnadenmutter von Neuheim steht im linken Seitenaltar der Pfarrkirche Maria Geburt. (Bild Stefan Kaiser)
    Die einst viel verehrte Gnadenmutter von Neuheim steht im linken Seitenaltar der Pfarrkirche Maria Geburt. (Bild Stefan Kaiser)

Neuheim – Dass Neuheim einst ein viel besuchter Gnadenort war, ist heute wohl den wenigsten mehr geläufig. Das wundert kaum, versiegten die Pilgerströme in die Zuger Berggemeinde doch bereits im 18. Jahrhundert. Das Objekt der einstigen «Pilgerbegierde» aber ist der Nachwelt erhalten geblieben und noch heute ­­­­in der Neuheimer Pfarrkirche sichtbar – im linken Seitenaltar.

Man sieht der «Neuheimer Muttergottes» ihr wahres Alter auf den ersten Blick nicht an. Ihre Aufmachung trägt zu stark die Charakteristik des 19. Jahrhunderts. Betrachtet man aber das Jesuskind genauer, erkennt man die figürliche Formensprache der Gotik: Entstanden ist ­ die Neuheimer Madonna in der ­Mitte des 14. Jahrhunderts. Ihrer Geschichte, ihrer einstigen starken Anziehungskraft auf Gläubige sowie ihrer kunst- und kulturhistorischen Bedeutung hat sich der Zuger Kunsthistoriker Josef Grünenfelder einst ausführlich angenommen und Erstaunliches aufgezeichnet.

Augenfälligstes Merkmal an der Neuheimer Muttergottes ist das Jesuskind, welches nicht wie gewohnt auf Marias Arm oder auf ihrem Schoss sitzt, sondern aufrecht neben ihr steht. Diese Darstellungsart war im 14. Jahrhundert nicht selten. Das stehende Jesuskind, so führt Grünenfelder aus, sei als Erlöser zu interpretieren, der im Be­griffe sei, sein Heilswerk an der Menschheit zu vollbringen. Der Historiker verweist in diesem Zusammenhang auf Paris, von wo im frühen 14. Jahrhundert zahlreiche Elfenbein-Madonnenstatuen dieser Art den Weg in die Welt fanden und diesen Bildtypus verbreiteten. Interessant: Das Siegel eines gewissen Dekans Philipp von Neuheim von 1360 im Staatsarchiv Zürich zeigt eine Madonna auf einer Bank sitzend, neben ihr das stehende Jesuskind. Es ist somit denkbar, dass der Dekan das Abbild der Neuheimer Madonna in seinem Siegel trug – zeitlich würde das Sinn ergeben.

Nun sitzt die Neuheimer Muttergottes aber nicht auf einer Bank – einst jedoch tat sie’s aber, wie genauere Untersuchungen der Statue ergeben haben. Die Figur ist im Laufe der Zeit mehrfach umgearbeitet und verändert worden, zeitweise dürfte sie wohl in einem spätgotischen Schrein in der Kirche aufgestellt worden sein. So formschön und anmutig sie sich heute präsentiert, ist dieser Wandel dennoch bedauerlich. Wie die Neuheimer Muttergottes ursprünglich ausgesehen haben mag, lassen die seltenen Vergleichsobjekte der Zentralschweiz vermuten – beide ebenfalls mit stehendem Jesuskind: Im Landesmuseum Zürich befindet sich eine solche ­Figur von ca. 1300 aus dem Entlebuch. Ein weiteres Exemplar von 1350 bekrönt den Hochaltar der Wallfahrtskapelle Maria Sonnenberg in Seelisberg. Die überregionale Verehrung der Neuheimer Madonna geht aus der Geschichtsschreibung hervor. So ist unter anderem verbürgt, dass zwei auswärtige Soldaten in der Zeit der Schlacht am Gubel der Muttergottes zu Neuheim eine Gabe spendeten für das Erhören ihrer Gebete.

In der Zeit des Barocks wurde die Neuheimer Muttergottes offensichtlich mit Kleidern aus Stoff versehen, wenigstens anlässlich kirchlicher Feste. Darauf weist eine weitere Aufzeichnung hin. Die grösste Veränderung erfuhr die Statue Mitte des 19. Jahrhunderts, als in der Neuheimer Pfarrkirche die heutigen Seitenaltäre aus Stuckmarmor aufgestellt wurden. Hatte die Madonna bisher wie erwähnt auf einer Bank oder einem stuhlähnlichen Objekt gesessen und das Kind daneben auf der Sitzfläche gestanden, verpasste man der Figur einen Sockel aus Wolken mit Mondsichel. Entsprechend wurden der untere Teil des Kleides sowie Schuhwerk hinzugefügt. Der Überwurf und die bekrönte Haarpracht stammen ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Madonna noch einmal umgestaltet, wenn auch nur in der Farbgebung. 1966 in den Zustand nach ihrer umfassenden Umarbeitung im 19. Jahrhundert zurückversetzt, steht die Gnadenmutter bis heute an ihrem Platz im Seitenaltar der Neuheimer Pfarrkirche als stilles Zeugnis einer einstmals intensiven Verehrung. Sie ist die einzige erhaltene figürliche Darstellung des 14. Jahrhunderts im Kanton Zug. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir Details mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach. Frühere Beiträge finden Sie online unter www.zugerzeitung.ch/hingeschaut.