«Aus der Tiefe flehe ich...»

Musik

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Krankheit, Krieg und Schöpfertum prägten das kurze Leben der französischen Komponistin Lili Boulanger. Was für ergreifende Musik daraus entstand, zeigte ein Doppelkonzert mit Zuger und Zürcher Beteiligung.

  • Die beiden Chöre Cantori Contenti und Concerto Vocale beim Auftritt in der Kirche St. Jakob in Cham. (Bild Stefan Kaiser)
    Die beiden Chöre Cantori Contenti und Concerto Vocale beim Auftritt in der Kirche St. Jakob in Cham. (Bild Stefan Kaiser)

Cham – Sogar für den international bekannten Zuger Komponisten Carl Rütti war Lili Boulanger eine Neuentdeckung. Zwei Chöre taten sich am letzten Wochenende unter ihrem Dirigenten Davide Fior zusammen, um fünf ihrer Werke aufzuführen: die Zuger Cantori Contenti, die damit ihr 35. Jubiläumsjahr beschlossen, und der seit 2017 bestehende Zürcher Projektchor Concerto Vocale.

Begleitet wurden sie vom Orchestra of Europe, das 2011 von der Geigerin Astrid Leutwyler gegründet wurde. Carl Rütti aber wurde beauftragt, für die Hommage an Lili Boulanger eine rund fünfzehnminütige «Antwort» zu komponieren.

Expressionistische und visionäre Musik

In den Werkeinführungen zu den beiden Konzerten in den Kirchen St.Jakob Zürich und St.Jakob Cham schildert er, wie Boulanger neben ihrer bekannteren Schwester Nadia lange vergessen ging, nun aber wiederentdeckt wurde. Seine Faszination findet eindringliche Worte: «Lili Boulanger ist stark expressiv – obwohl in einer impressionistischen Klangwelt. Und visionär! In Psalm 130 zum Beispiel ist es, als hätte sie das Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg vorausgehört. Auch musikalisch war sie ihrer Zeit voraus, war atonal zehn Jahre bevor es Schönberg gab!» Immer wieder taucht der Begriff «expressiv» auf.

Wer war diese Lili Boulanger? 1893 in Paris in eine etablierte Musikerfamilie hineingeboren, starb sie nur 25-jährig an einer Immunkrankheit – wenige Monate vor dem Ende des Ersten Weltkrieges. Ein kurzes, intensives Leben, eingespannt zwischen der geschwächten Konstitution und der Musik. Lili Boulanger wollte zeitlebens nur eines, Komponistin sein. Den begehrten Kompositionspreis «Prix de Rome» zu gewinnen wurde früh zum Motor ihres noch jugendlichen Schaffens. Und mit 19 Jahren erhielt sie ihn auch – als erste Frau überhaupt. Das mit dem Preis verbundene Stipendiat in der Villa Medici in Rom konnte sie indes nicht antreten, weil der Erste Weltkrieg ausbrach und ihre Gesundheit sich verschlechterte. Ungebeugt, mit gebündelter Schaffenskraft komponierte sie weiter. Ihr letztes Werk, «Pie Jesu», diktierte sie ihrer Schwester Nadia auf dem Sterbebett.

Ein Werk zwischen zwei Polen

Die drastisch begrenzte Lebenszeit, die Erfahrung von Krankheit und Krieg haben ein Werk hervorgebracht, das zwischen zwei Extremen oszilliert: dem Bewusstsein um Todesnähe einerseits, dem nach Ausdruck verlangenden Genie anderseits. Zwischen der äussersten Not und der schöpferischen Kraft, sie in Musik zu verwandeln. Es ist daher kein Zufall, dass die zuger-zürcherische Hommage an Lili Boulanger den Aufbau eines Requiems hat. Sensibel und konzentriert führt Davide Fior das Orchester in den Psalm 129, steht zurück vor der Grösse des alten jüdischen Gebets, welches das Leben Lili Boulangers gleichsam komprimiert: «Oft haben sie mich bedrängt, von Jugend an, auf meinem Rücken ackerten Pflüger und haben tiefe Furchen gezogen.» Das Aufbegehren wird einstimmig von den Männern gesungen, erst gegen Schluss geht es über in ein Jenseitsvertrauen – in ein «Halo» sanfter, ferner Frauenstimmen.

In «Pour les funérailles d’un soldat» betten die Männerstimmen und der Bariton Fabrice Raviolas einen toten Hauptmann ins Grab, Trommel- und Paukenwirbel erzeugen eine fast thea­tralische Vorstellung von kriegsversehrter Landschaft, und wieder schimmern die hellen Stimmen nur in einem Satz auf: «L’âme appartient à Dieu» – die Seele gehört Gott! «Vieille prière bouddhique» aber ist ein tröstliches Werk für Chor, Orchester und Tenor (dramatisch expressiv: Tino Brütsch), eine orientalische Beschwörung versprochener Glückseligkeit, die besonders schön in den pentatonischen Arabesken des Flöten-Intermezzos aufscheint.

Carls Antwort auf Lili

In «Pie Jesu» übernimmt die Mezzosopranistin Sonja Leutwyler gleichsam stellvertretend Lili Boulangers eigene Stimme, bevor sie erlischt. Das kurze, intime, nur von Streichquartett, Harfe und Orgel begleitete Solo bleibt wie ein silbriger Faden im Raum hängen, so dass Carl Rüttis «Dona nobis pacem» ihn aufgreifen und der Violine übergeben kann. Seine Antwort auf Boulangers Musik ist tröstlich und verspielt, inszeniert Orchester, Chor, Orgel, Harfe, Celesta, Cello, Flöte, die drei Solostimmen, und lässt plötzlich das Gurren der Friedenstaube erklingen. Gegen Ende erzwingt das Tutti-Fortissimo den Frieden, um sich dann zu beruhigen zum finalen «Amen».

Eine wunderschöne, in ihrer Instrumentierung fast szenische Uraufführung! Boulangers Psalm 130 beschloss das Konzert – ein etwas längeres Werk mit mächtigem Sog, ein Ringen zwischen Hoffnung und Trostlosigkeit: «Aus der Tiefe flehe ich zu dir, Herr, erhöre mich!» Das hochsubtile, berührende Konzert bekam stehenden Applaus, wenn auch, zumindest in Zürich, von viel zu wenig Publikum. (Dorotea Bitterli)