Rückerinnerung an die Stummfilm-Zeit

Musik

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Orgel und Stummfilm – das Gastkonzert des Organisten Marle-Ouvrard in Menzingen beeindruckte durch Verbindung der beiden Elemente, was auch beim Publikum grossen Anklang fand.

  • An der Orgel improvisierte Baptiste-Florian Marle-Ouvrard die passende Musik zum Stummfilm «Das Phantom der Oper», dem die Leute im Kirchenschiff folgten. (Bild Stefan Kaiser)
    An der Orgel improvisierte Baptiste-Florian Marle-Ouvrard die passende Musik zum Stummfilm «Das Phantom der Oper», dem die Leute im Kirchenschiff folgten. (Bild Stefan Kaiser)

Menzingen – Innerhalb der Menzinger Kirchenkonzerte war es nach der Begrüssung durch Trix Gubser ein spezieller Anlass: Die fast zweistündige Präsentation des gar nicht christlich geprägten Stummfilms «Das Phantom der Oper» (Originaltitel «The Phantom of the Opera») wurde vom Pariser Organisten Baptiste-Florian Marle-Ouvrard auf der eigentlich für liturgische Aufgaben gebauten Orgel ausgeschmückt und begleitet.

Der Film entstand zur Hauptsache 1925, gemessen an den damaligen Möglichkeiten ein technisches Meisterwerk. Die Handlung mit einem Operngespenst in stark physischer Realität fusste auf dem Roman des heute weitgehend vergessenen Gaston Leroux (1868–1927). Der aus nicht genannten Gründen im Gesicht entstellte Eric ist gleichzeitig der Übeltäter; eine Erlösung im Sinne der Märchen wird an einzelnen Stellen angedeutet, findet aber nicht statt. Nach mehreren Todesopfern unbeteiligter Personen wird der Bösewicht als «gerechte Strafe» schliesslich im Seine-Fluss ertränkt.

Dialoge waren im Stummfilm nicht möglich, und was sich nicht durch die Bewegungsabläufe und die Körpersprache von selbst erklärte, wurde in kurzen Zwischenkommentaren projiziert, eine Art Vorstufe zu den späteren Untertiteln. Diese erschienen in Englisch, daneben und teilweise auch darüber noch in Französisch, was bei der kurzen Projektionsdauer das inhaltliche Mitgehen etwas erschwerte. Die moderne elektronische Kopie unterdrückte das Rattern der Original-16-mm-Spulen, und sie ermöglichte die Ergänzung durch eine Sequenz von 1930 im sogenannten «Zwei-Farben-Technicolor» als Vorstufe zum späteren Farbfilm.

Pferdegetrampel und Kanonendonner

Da man es sich in den allermeisten Fällen nicht leisten konnte, für jede Filmvorführung ein Begleitorchester zu engagieren, erklangen mit einer kurzen Blütezeit von ca. 1915–1935 vor allem in den USA zahlreiche Kino-Orgeln. Diese sollten möglichst realitätsnah ein Orchester nachahmen; dabei gab es auch Register – wie Schlagzeug, ­Kanonendonner, Windgeheul, Pferdegetrampel, Applaus usw. – die in der Menzinger Kirchenorgel St.Johannes der Täufer natürlich nicht vorkamen.

Schon kurz nach den Dreharbeiten schrieb Sam Perry (1884–1946) die erste Filmmusik; der Film ist bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts mehrmals vertont worden. Dennoch blieb für den Kino-Organisten immer ein gutes Stück Improvisation, was Marle-Ouvrard auch weidlich ausnützte. Wenn im Film Musik- und Ballett-Szenen vorkamen, wusste er sich in Rhythmus und Stimmung geschickt anzupassen. Erspart blieb ihm immerhin die Aufgabe der Originalzeit, auch Schwankungen in der Projektionsgeschwindigkeit und andere technische Pannen beim Abspulen durch seine Musik zu kaschieren.

Beeindruckende Ausdauer

Insgesamt entschied sich der Organist für kräftige Registrierungen unter häufiger Verwendung der Zungenregister. Die Spannung wurde in vielen Fällen durch den Übergang von konventioneller Tonalität in immer extremere harmonische Verfremdungen nachvollzogen. Natürlich griff der Interpret für seine Improvisationen auch auf Bekanntes zurück. Etwa die erste Untergrund-Szene zwischen dem Phantom und Christine inspirierte zur Übernahme der Thematik des zweiten Satzes aus der 7. Beethoven-Sinfonie. Beeindruckt war man nicht zuletzt von der Ausdauer des pausenlos mitspielenden Organisten. Bei einzelnen beklemmenden Passagen hätten Momente der Stille vielleicht sogar besser gepasst.

Obwohl eine solche Präsentation als Kirchenkonzert noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre, übte niemand Kritik an der Verfremdung. Als nächster Anlass des Zyklus erklingt am 27. Februar Jazzmusik für Trompete und Orgel. (Jürg Röthlisberger)