Er schreibt, was ihm selbst Spass macht
Musik
Der Zuger Komponist Carl Rütti hat die Visionen von Niklaus von Flüe vertont. Und sagt, wie man Klischees verwendet, als wären sie neu.
Zug – Der Zuger Komponist Carl Rütti feiert mit seiner farbsprühenden, rhythmisch inspirierten Musik international Erfolge. Nachdem er für den Horwer Organisten Martin Heini und das Kammerorchester der Philharmonie Nowosibirsk bereits ein Orgelkonzert geschrieben hat («Tongues of fire»), kommt es jetzt zu einer weiteren prominenten Zusammenarbeit: Maria C. Schmid (Sopran) und Mario Schubiger (Schlagzeug) wirken als Solisten mit in Rüttis Vertonung der «Visionen des Niklaus von Flüe». Die Uraufführung des knapp einstündigen sinfonischen Werks wird unter dem Motto «Visionen» ergänzt durch Werke von Edvard Grieg und Caspar Diethelm.
Carl Rütti, Sie liessen sich als Komponist mehrmals von den Visionen des Niklaus von Flüe inspirieren. Was fasziniert Sie an dieser Figur?
Carl Rütti: Bruder Klaus hatte ein schwieriges Leben. Schon als Bauer und in seiner Zeit des Fastens plagten ihn Depressionen und erst recht, als er seine Familie verliess und sich für ein Leben als Pilger und schliesslich als Einsiedler entschied. Damit ist er kein entrückter Heiliger, sondern durch und durch menschlich. Die Bildhaftigkeit seiner Visionen wie auch sein Leiden sind zudem musikalisch ausserordentlich inspirierend. Als Sinnbild für seinen Schmerz verwende ich zum Beispiel in meiner Vertonung der Texte die schlichte gregorianische Lamentationsmelodie, wie sie in der Karfreitags-Mette gesungen wurde.
Haben Sie jetzt für die Vertonung der Visionen, wie sie sein Enkel überliefert hat, eigene Werke verwendet, die davon inspiriert waren?
Rütti: Nein. Das lag zwar zunächst nahe, aber dann stellte ich fest, dass die in den Visionen geschilderten Stationen geradezu einer sinfonischen Form entsprachen, die mir hier vorschwebte und die auch der Dirigent Rainer Held gewünscht hatte. Die Begegnung mit einem Pilger in der ersten Vision schliesst mit dem Zusammensturz des Pilatus drastische Verwandlungen mit ein, die verblüffend einem ersten sinfonischen Hauptsatz entsprechen. Aus der zweiten Vision, die im Zelt im Zeichen des Dankes steht, ergab sich ein langsamer Satz. Statt eines Scherzos komponierte ich dann, auch um den Umfang des Ganzen zu begrenzen, ein grösseres Finale. Dessen Coda führt einen zweiten Formstrang zu Ende, der sich vom Meditationsbild des Bruder Klaus herleitet.
Ein Meditationsbild als musikalische Inspiration?
Rütti: Ja, das Meditationsbild von Bruder Klaus besteht bekanntlich aus einem Kreis und sechs Pfeilen, die abwechselnd zu ihm hin und von ihm weg führen. Nach diesem Muster habe ich die Schlüsse der einzelnen Abschnitte als Crescendo oder Decrescendo gestaltet. Für den Kreis selbst steht in der Coda eine statische, unablässig gesteigerte Klangtotale.
Eine Besonderheit des Werks ist die mittelhochdeutsche Sprache, die sich gegen jede Form von Belcanto zu sträuben scheint.
Rütti: Ja, diese Sprache war eine reizvolle Herausforderung. Interessant finde ich ihre Nähe zum heutigen «Schwiizerdütsch», das in Volksliedern, aber kaum je im Kunstgesang verwendet wird. Ich musste hier besonders darauf achten, dass in hohen Lagen offene Vokale eine bevorzugte Rolle spielen, damit die Stimme gegen das Orchester durchkommt. Achtet man jedoch darauf, kann die Stimme aber auch in dieser Sprache zu eigentlichen Höhenflügen ansetzen. Trotzdem ist das eine sehr anspruchsvolle Partie, weil die Solistin, nur mit kleinen Unterbrüchen, immer im Einsatz ist.
Ihre Musik scheut nicht vor traditionellen Mustern zurück und ist auch deshalb unmittelbar verständlich. Wie weit kann man da trotzdem innovativ sein bei einem Text, der durch seine Bildhaftigkeit Stereotype nahelegt?
Rütti: Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich einfach die Musik schreibe, die mir selber Spass macht! Als ich studierte, war der Kompositionsunterricht ganz von Aleatorik oder der seriellen Musik bestimmt. Weil mich beides nicht interessierte, bildete ich mich autodidaktisch weiter. Mich inspirierten Jazz, Jimi Hendrix oder die Beatles mehr als die damalige Avantgarde. Mit der Prägung durch die Musik etwa von Messiaen, des Impressionismus oder einem Werk wie Gershwins «Rhapsody in Blue» verband sich all das mit der Zeit zu einem eigenen Stil.
Wenn in der ersten «Vision» der Pilatus zusammenstürzt, denkt man sofort an entsprechende musikalische Stereotype. Wie kann man solche so verwenden, als wären sie neu?
Rütti: Entscheidend ist, dass ein solches Ereignis immer eingebettet ist in einen Verlauf. Bei meiner Vertonung dieser Stelle gibt es zwar tatsächlich abstürzende Skalen und vibrierende Cluster. Aber sie erklingen nicht auf die entsprechenden Worte selbst da hätte die Stimme keine Chance, gegen das sinfonische Orchester mit Orgel und solistischem Schlagwerk durchzukommen. Wie solche Muster prozesshaft entwickelt und aufgebaut werden, bringt immer ein neues Element mit ein. Und gegen die Gefahr, sich in Klischees zu wiederholen, schützt generell, dass man sich nah an den jeweiligen Text mit seiner eigenen Individualität hält.
Zum Komponieren wurden Sie einst in England inspiriert, wo Ihre Werke bis heute regelmässig aufgeführt werden. Was gab den Ausschlag?
Rütti: Ein Grund war, dass die Engländer immer undogmatisch waren, was Avantgarde und Neue Musik betrifft. Eine Offenbarung aber waren für mich englische Chöre, die glockenrein sangen mit der Präzision eines Streichquartetts. Das war für mich etwas ganz Neues und inspirierte mich zu meinem ersten Chorwerk, das vieles ins Rollen brachte. (Interview Urs Mattenberger)
HinweisCarl Rütti (64) studierte Klavier und Orgel in Zürich und wurde durch die Studienzeit in England zum Komponieren inspiriert. Er lebt in Zug, unterrichtet Klavier in Zürich und ist Organist in Oberägeri.Konzert: Carl Rütti, «Die Visionen des Niklaus von Flüe»: Samstag, 8. Februar, 20 Uhr, kath. Kirche, Oberägeri; Sonntag, 9. Februar, 17 Uhr, Pfarrkirche St. Katharina, Horw