Die Stadtbahn gab es schon 1902

Brauchtum & Geschichte

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Episoden aus der Zuger Eisenbahngeschichte: Die Eisenbahngesellschaften suchten nach Möglichkeiten, für kürzere Strecken billigere Angebote zu schaffen. Mit der Erfindung des Verbrennungsmotors entstanden Motorwagen. In Zug verkehrte der erste in der Schweiz.

  • Motorwagen Daimler – keine Puffer, sehr hoher Einstieg und sehr rudimentäre Federung. (Bild Die Triebwagen der SBB, Jeanmaire 1994)
    Motorwagen Daimler – keine Puffer, sehr hoher Einstieg und sehr rudimentäre Federung. (Bild Die Triebwagen der SBB, Jeanmaire 1994)
  • Die technische Zeichnung zeigt den «Mittelmotor» mit direktem Achsantrieb über ein Vierganggetriebe und die beschränkten Platzverhältnisse. (Bild Die Triebwagen der SBB, Jeanmaire 1994)
    Die technische Zeichnung zeigt den «Mittelmotor» mit direktem Achsantrieb über ein Vierganggetriebe und die beschränkten Platzverhältnisse. (Bild Die Triebwagen der SBB, Jeanmaire 1994)
  • Der für Lastwagen konstruierte Daimler-Vierzylinder lief rau. (Bild SBB Historic)
    Der für Lastwagen konstruierte Daimler-Vierzylinder lief rau. (Bild SBB Historic)

Zug – Unsere erfolgreiche Stadtbahn ist keine Neuerfindung. Bisher kaum bekannt, richteten die SBB 1902 auf den Winterfahrplan hin einen «Motorwagendienst» ein.

In seinem Rechenschaftsbericht für das Jahr 1902 schreibt der Zuger Regierungsrat: «Infolge der Bemühungen des Regierungsrates wurde im Berichtsjahre die Führung eines Motorwagens auf der Linie Baar=Rothkreuz hergestellt, wodurch sowohl der Lokalverkehr als auch der Verkehr mit dem Kanton Aargau wesentlich gewonnen hat.»

Nordostbahn als Pionier

Die Anfänge machte die Nordostbahn (NOB), welche 1900 für 30 000 Goldmark einen Benzin-Motorwagen von Daimler als Occasion sowie einen französischen Serpollet-Dampftriebwagen kaufte.

Im Geschäftsbericht von 1900 ist nachzulesen, was die Gründe waren: «Damit gingen Hand in Hand Studien über die Einführung des Motorwagenbetriebes auf gewissen Strecken, insbesondere da, wo sich ein gewisses Bedürfnis der Vermehrung von Fahrgelegenheiten im Personenverkehr geltend macht, dem aber im gewöhnlichen Lokomotivbetrieb ohne zu grosse Kosten nicht Rechnung getragen werden kann.» Die NOB wurde Anfang 1902 verstaatlicht und zum Kreis III der SBB. So kamen die SBB zu beiden Fahrzeugen. Den Daimler-Motorwagen setzten sie im Kanton Zug ein.

«Benzin-Motor-­Herrlichkeit»

Der Daimler besass einen Vierzylinder-Benzinmotor mit 30 PS, der ursprünglich für Lastwagen konstruiert worden war und auf das Jahr 1886 zurückging. Mit dem 100-Liter-Benzintank war die theoretische Reichweite 350 km, aber in der Realität war es deutlich weniger – das Gefährt soff und war ziemlich unzuverlässig.

Die Höchstgeschwindigkeit betrug 32 km/h und das Schalten der vier Gänge sorgte für starkes Ruckeln. Schlecht gefedert war der Daimler auch und der hohe Einstieg verlangte eine gewisse Fitness. Bequem hatten es die maximal 40 Passagiere also nicht – und laut war es auch: Der rau laufende Mittelmotor ragte in die Kabine und war nur mit einem Blech abgedeckt.

Kein Wunder, kam das Gefährt beim Publikum nicht gut an. In einem Leserbrief im «Zuger Volksblatt» zwei Wochen nach Start des Motorwagenkurses unter dem Titel: «Benzin-Motor-Herrlichkeit» ist Schadenfreude zu spüren: Kaum in Betrieb, «funktionierte das Vehikel schon nicht mehr (...) und musste der Wagen zurück nach Zürich zu Muttern genommen werden, um eine längere Erholungskur durchzumachen». Die SBB nahmen das Fahrzeug im September 1911 ausser Betrieb.

Wieso gerade Zug?

Die Frage lässt sich nicht klar beantworten. Sicher ist, dass die Regierung und auch der Zuger Stadtrat sich bald nach der Einweihung der neuen Linie Thalwil–Baar–Zug 1897 darum bemühten, zusätzliche Verbindung zwischen «Baar und Rothkreuz» einzurichten. Am 2. März 1901 protokolliert die kantonale Eisenbahnkommission den Eingang von entsprechenden Begehren der beiden Gremien, empfiehlt aber nur, dass die Bemühungen der NOB für ein «Gesuch um Konzessionserteilung für Führung von Tramzügen auf der Strecke Dietikon-Zürich (...) vorerst beim eidg. Eisenbahndepartemente» unterstützt werden sollen.

Kollermühle bekommt Haltestelle ...

Am 30. September 1902 vermelden die «Zuger Nachrichten», dass ab 1. Oktober 1902 «auf der Bahnstrecke Zug-Rothkreuz eine vermehrte Fahrgelegenheit eintritt. (...) Mit dieser bedeutend verbesserten Fahrordnung sind die Kantone Zug und Aargau einander näher gerückt». Drei Tage zuvor hatte das «Zuger Volksblatt» die Taxen für die neue Haltestelle in der Kollermühle publiziert – eine Retourfahrt nach Zug kostete 25 Cent. Die neue Haltestelle wurde offenbar genutzt, denn am 23. Juni 1905 beschliesst der Stadtrat, an die von ansässigen Bewohnern geforderte «Schutzhütte» 75 Franken zu zahlen, bei Erstellungskosten von 250 Franken. Auffällig am Fahrplan des neuen Angebotes: Bevorzugt wird «Zug–Rothkreuz» und die Abfahrtszeiten weisen auf den Charakter als Pendlerzüge hin, obwohl dies nirgends als Begründung erscheint. Zwischen «Baar und Rothkreuz» verkehrt nur ein Kurs, dafür wird der Motorwagen für zusätzliche Kurse zwischen Zug und Baar benutzt.

... warum Rüti nicht?

Mit dem Essen kommt der Appetit, sprich: der Bedarf nach zusätzlichen Haltestellen. 1906 beklagt der Regierungsrat, dass die SBB «die Errichtung einer Haltestelle für Tramzüge bei Rüti, Risch» abgelehnt haben, «mit der Begründung, dass ein wirkliches Verkehrsbedürfnis nicht vorliege, die Station Rothkreuz zu nahe sei und der Bahn daraus mancherlei Nachteile erwüchsen». Die Fahrt für die 12,8 Bahnkilometer zwischen «Baar und Rothkreuz» dauerte 35 Minuten – heute sind es mit der S1 bei doppelt so vielen Haltestellen 18 Minuten.

Ab 1923 elektrisch

Bis 1908 ist der Einsatz des Daimler-Motorwagens nachgewiesen und versieht gemäss Schweizerischer Bauzeitung «den Dienst ziemlich regelmässig». Solange aber die Umlaufpläne der SBB bei SBB Historic noch nicht erschlossen sind – so überhaupt vorhanden –, lässt sich leider nicht mit Sicherheit feststellen, mit welchem Rollmaterial die SBB einen bestimmten Zug gefahren sind.

Sicher ist, dass gemäss Fahrplan spezielle Kurse zwischen Baar und Rothkreuz bis Ende der 20er-Jahre gefahren wurden und dass ab 1923 mit dem elektrischen Triebwagen Ce 4/6 topmodernes Rollmaterial zum Zuge kam. Die «Benzin-Motor-Herrlichkeit» blieb eine kurze Episode, heute freuen wir uns über gut funktionierende Stadtbahn-Flirts. (Text von Martin Stuber)

Hinweis
Martin Stuber forscht zur Geschichte der Eisenbahn mit den Schwerpunkten Eisenbahnkrise 1875–1879, Gotthardbahn und Eisenbahn im Kanton Zug. Er ist Mitinitiator des Zug Fäscht.