Das Haus des «Dorfkönigs»

Brauchtum & Geschichte

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Wo heute die Bibliothek Ägerital ihre Räume hat, residierte einst politische und wirtschaftliche Prominenz. Eine eigenwillige Inschrift über dem Eingang verrät’s.

  • Das herrschaftliche Haus ist 1864 erbaut worden. Im Bild unten ist die Inschrift erkennbar. (Bilder Matthias Jurt)
    Das herrschaftliche Haus ist 1864 erbaut worden. Im Bild unten ist die Inschrift erkennbar. (Bilder Matthias Jurt)

Unterägeri – Blickt man in Unterägeri von der Zugerstrasse über den grosszügigen Platz, an dessen oberen Ende die mächtige neugotische Pfarrkirche sich erhebt, so mag einem in zweiter Linie das stattliche Haus Zugerstrasse 6 ins Auge fallen. Es scheint für ein rural geprägtes Dorf wie Unterägeri überdurchschnittlich dimensioniert, war aber eines von mehreren grossformatigen Wohnhäusern, welche Mitte 19. Jahrhundert im industriell aufstrebenden Dorf entstanden sind.

Eine in ihrer Form ungewöhnliche, in den Verputz geritzte Inschrift über den rückseitigen Portal verrät denn auch, wer das Haus hat errichten lassen: In leicht krakeliger Schrift sind da die Buchstaben J-A-H zu lesen. Darüber steht «Grossrath». Die Zahl 1864 unter dem Fenstersims verweist auf das Baujahr.

Die Vermutung liegt nahe, dass der Bauherr und Bewohner des Gebäudes wohl nicht unbedeutend und schon gar nicht unvermögend gewesen sein muss. Es war Josef Anton Hess (1832–1915), Textilfabrikant und Politiker. Die Familie genoss seit Generationen Ansehen im Dorf: Josef Antons Grossvater Johann Josef war als Arzt für das Wohl der Ägeritaler bis hinüber nach Rothenthurm besorgt, und sein gleichnamiger Vater führte ein eigenes Färbereiunternehmen, hatte es militärisch bis zum Rang des Majors gebracht und amtierte als Gemeindepräsident von Unterägeri.

Wie der Vater, so der Sohn

Am 15. März 1832 kam Sohn Josef Anton zur Welt. Nach dem Ableben seines Vaters im Jahr 1853 übernahm er dessen Textilfirma und erweiterte sie im grossen Umfang: Zum Färbereibetrieb kam nun auch der Handel mit Weberei- und Stickereierzeugnissen. Das Geschäft florierte, sodass Hess 1862 in Genua einen weiteren Webereibetrieb gründete.

Ab 1854 tat es Josef Anton Hess junior seinem Vater auch politisch gleich, wie einem Eintrag des Zuger Historikers Renato Morosoli im historischen Lexikon der Schweiz zu entnehmen ist. Hess wirkte demnach wiederholt als Zuger Grossrat – seit 1873 als Kantonsrat bezeichnet. Ab 1877 war er Ständerat und wurde im selben Jahr zum Unterägerer Gemeindepräsident gewählt. Als Mensch galt der politisch konservativ gesinnte Hess als sehr eigenwillig und wurde von der Bevölkerung zuweilen als «Dorfkönig» bezeichnet.

Die damals dominierende liberale Partei, die insbesondere von der einflussreichen Industriellenfamilie Henggeler gestützt wurde, verlor ihre politische Vorherrschaft an die konservative Partei, welcher Hess angehörte. Wenn es aber um die Modernisierung und Entwicklung der Gemeinde ging, stellte sich Hess auf die Seite der Opposition und engagierte sich zusammen mit ihr für den Ausbau der örtlichen Wasserversorgung, der Verkehrserschliessung und die Förderung des Fremdenverkehrs.

«Dorfkönig» Josef Anton Hess war zweimal verheiratet, erst mit Johanna Gamma aus Wassen, dann mit Maria Elisa Benziger aus der wohlbekannten Einsiedler Verlagsunternehmerfamilie. Hess starb am 4. Januar 1915 in Unterägeri. Was von ihm und seinem Wirken bis heute zeugt, ist das eindrückliche Wohnhaus an der Hauptstrasse mit der eigenwilligen Inschrift über der Tür.

Der Architekt des Gebäudes ist nicht überliefert, aber laut dem Zuger Kunsthistoriker Josef Grünenfelder kann möglicherweise Ferdinand Stadler an­genommen werden, welcher die vier Jahre vor Errichtung des «Palais Hess» eingeweihte Pfarrkirche gleich nebenan entworfen hatte.

Ein wertvoller Bauzeuge

Erfreulich ist, dass sich im Inneren des klassizistischen Gebäudes, welches heute unter anderem die Bibliothek Ägerital beherbergt, einiges von der ursprünglichen Ausstattung erhalten hat. So sind noch grössere Teile des maserierten Wand- und Brusttäfers vorhanden. Im Parterre ist im Zuge von Renovations- und Umbauarbeiten im Jahr 2002 ein erstaunlich gut erhaltenes Deckengemälde zum Vorschein gekommen. Es zeigt vier exotische Darstellungen. Ein weiteres erhaltenes Deckengemälde befindet sich im zweiten Obergeschoss. Seit dem Umbau ist das Haus denkmalgeschützt. (Text von Andreas Faessler)

Hinweis
Mit Hingeschaut gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.