«Erinnerungen sind unzuverlässig»

Literatur & Gesellschaft

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Der Illustrator Pirmin Beeler hat seine erste Graphic Novel herausgegeben, welche die Geschichte einer psychisch kranken Frau und ihres Sohnes erzählt. Das Werk ist teilweise autobiografisch. Die Hauptfigur ist seiner Mutter nachempfunden.

  • In seiner Graphic Novel verarbeitet der Illustrator Pirmin Beeler auch eigene Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend. (Bild Maria Schmid)
    In seiner Graphic Novel verarbeitet der Illustrator Pirmin Beeler auch eigene Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend. (Bild Maria Schmid)

Zug – Zu welchen Teilen genau seine Graphic Novel nun die eigene Lebensgeschichte schildert, ist für den Illustrator und Autor Pirmin Beeler aus Zug nicht relevant. «Auch die eigenen Erinnerungen sind ja nicht zuverlässig. Sie sind immer subjektiv. Jeder hat eine andere Wahrnehmung», stellt er klar. Also lässt sich Beeler in seinem Erzählrhythmus nicht einschränken und mischt die eigenen Erinnerungen mit Fiktion.

Hauptfigur seiner Graphic Novel ist die Schweizerin Anne, die seit der Geburt ihres Sohnes an einer psychischen Krankheit leidet, für die sie keine Worte findet. Sie trennt sich von ihrem Mann und lernt den Kurden Ali kennen, der als Gastarbeiter in der Schweiz lebt. Er zeigt ihr seine Heimat, ein kleines Dorf in Anatolien, wo sich die beiden eine neue Zukunft aufbauen. Der erwachsene Sohn besucht die Mutter, beobachtet sie ihn ihrem Alltag, sucht das Gespräch, erinnert sich und reist wieder heim.

Das Leben ergründen

Pirmin Beeler wohnt in einem 100-jährigen Haus mitten in der Stadt Zug, dessen Einrichtung aus Liebhaberstücken besteht. Ein natürlich wilder Garten umgibt das Haus, das eine stille Würde ausstrahlt. Die Umgebung passt zu ihm. Auch er ist ein stiller Schaffer, der nicht viel Aufhebens um sich macht, dafür umso mehr um das Leben selbst, das er in all seiner Widersprüchlichkeit zu ergründen versucht. Er tut dies mit seiner Kunst, dem Zeichnen und Illustrieren.

Der 43-Jährige ist ohne Geschwister bei seinem Vater aufgewachsen. Die Mutter litt an einer psychischen Krankheit, die er zwar intuitiv verstand, aber nicht erklärt bekam. Wie die Figur Anne lebt die Mutter heute zeitweise mit ihrem Partner in Anatolien. Ihr hat Beeler sein Erstlingswerk gewidmet.

Alle Worte schon im Titel verbraucht

Seit jenen Kindertagen versucht der Künstler die Welt der Mutter zu verstehen, auch ohne Worte. Deshalb lernte er den Beruf des Psychiatriepflegers, den er neben seinem Hauptberuf als Illustrator in Zürich noch immer im Teilzeitpensum ausübt. Deshalb drückt er sich auch in Bildern aus und verwendet nur spärlich Worte. Nur der Titel seiner Graphic Novel ist fast verschwenderisch lang: «Hat man erst angefangen zu reden, kann alles Mögliche dabei herauskommen.» Es handelt sich dabei um das Zitat aus einem Roman der amerikanischen Autorin Marilynne Robinson. «Im Titel wird der ganze Text schon verbraucht», sagt Beeler halb scherzend.

Der Satz der Autorin sprang ihm beim Lesen ihres Romans «Lila» ins Auge und liess ihn nicht mehr los. So sollte der Titel seiner Geschichte lauten, einer Geschichte, die vor allem von stimmigen, teils grossformatigen Bildern in sanften Farbtönen lebt. Der Künstler arbeitet mit Fineliner und Aquarellfarbe, einer Technik, die «sich unmöglich kontrollieren lässt.» Viele der Bilder sind selbsterklärend, kommen ganz ohne Text aus. Die erste Seite zeigt die Skyline der Stadt Zug, Beelers Heimat. Aber es könnte auch jede andere Schweizer Kleinstadt sein, wie er betont.

«In fast jeder Familie gibt es doch einen schrägen Onkel oder eine schrille Tante, deren psychische Probleme man ohne viele Worte hinnimmt», stellt Beeler fest. «Jeder weiss zwar, dass da etwas nicht stimmt, aber man redet nicht darüber aus Angst, Scham oder Wut.» Nein, das sei nicht typisch schweizerisch, eher menschlich, sagt er nachdenklich.

Das Buch vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr der Junge von damals unter dem Schweigen der Erwachsenen gelitten hat. Man erkennt aber auch den Versuch der Aufarbeitung, der Annäherung und Versöhnung, in seiner schlichten Demut rührend ehrlich und authentisch. Tiefer in die Welt seiner Mutter wird der Autor nicht vordringen, dies zuzulassen, ist ihr unmöglich. Es ist, wie es ist, und es ist gut so. (Cornelia Bisch)

Hinweis
Die Graphic Novel mit dem Titel «Hat man erst angefangen zu reden, kann alles Mögliche passieren» von Pirmin Beeler ist im Verlag Edition Moderne erschienen und im Buchhandel zum Preis von 29.80 Franken erhältlich, ISBN 978-3-03731-180-6, Infos unter www.pirminbeeler.ch.