Vom Schweigen erzählen

Literatur & Gesellschaft

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Özlem Çimen schreibt in ihrem Debüt­roman «Babas Schweigen» davon, wie sehr Geschichte und Geschichten unsere Identität prägen.

  • Çimen Özlem hat ihren Debütroman veröffentlich. (Bild: zVg)
    Çimen Özlem hat ihren Debütroman veröffentlich. (Bild: zVg)

Zug – Dieser Artikel erschien in der März-Ausgabe 2024. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.

 

«Um gross zu werden, brauchen Kinder neben Brot und Milch auch Geschichten», schreibt Özlem Çimen in ihrem gerade erschienenen Debütroman «Babas Schweigen». «Ursprünglich keimte der Text aus dem Bedürfnis, die Geschichte meiner Familie für meine Kinder niederzuschreiben», erzählt die 42-Jährige, die mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Zug lebt. Sie hat Corona erwischt, so richtig schlimm. -Dabei jedoch realisiert sie zum ersten Mal wirklich, wie vergänglich die Gesundheit ist. Doch auch als die Krankheit endlich wieder überstanden ist, blieb dieser eine Gedanke zurück: «Wer wird meinen Kindern unsere Geschichte erzählen, wenn ich es nicht tue?» Noch sind sie zu klein, um all das einordnen zu können, was ihre Mutter Özlem Çimen ihnen erzählen will. All das, worüber jahrzehntelang in ihrer Familie geschwiegen wurde. So wie wahrscheinlich auch in vielen anderen Familien.
 
Nur noch abtippen
Umso wichtiger ist es Çimen, sich gleich an die Arbeit zu machen. Sie verschriftlicht Erinnerungen und sortiert Gedanken, recherchiert Ereignisse und ihre Hintergründe. Das Schreiben fällt ihr nicht schwer. 
Die Geschichten trägt sie schon lange mit sich herum, nun gilt es, diese abzutippen. «Ich wäre allerdings nie selbst auf die Idee gekommen, einen Roman über meine Familie zu schreiben», sagt Özlem Çimen lachend, als wir uns an einem kalten, nebelverhangenen Tag im Freiruum zum Gespräch treffen. Zum Glück aber lernt sie dann an einem Schreibworkshop die Schriftstellerin Gabrielle Alioth kennen, die zu ihrer Mentorin wird. Diese erkennt Çimens Potenzial sofort und ist überzeugt, dass ihre Geschichte ein breites Publikum finden wird. Özlem Çimen hingegen scheint noch immer ein bisschen davon überrascht, dass aus ihrem Text ein Roman geworden ist, der nun im Limmat Verlag erscheint.
 
Der Sommer in der Heimat
Der Roman spielt mehrheitlich in einem kleinen Dorf im Osten Anatoliens, irgendwo in der Provinz, die mittlerweile Tunceli heisst. Wie viele -andere Migrantenkinder verbringt auch Özlem Çimen Sommer für Sommer im Heimatort ihres Vaters. Sie geniesst dort sehr viel Freiheit und die Gemeinschaft mit ihren Cousinen und Cousins; manche leben wie sie inzwischen weit weg und kommen bloss im Sommer, andere sind in dem Dorf zuhause. Einst hatte dieses  einen armenischen Namen, dann trug es einen kurdischen und heute einen türkischen; so viel verrät die Erzählerin. Sie heisst wie die Autorin Özlem. «Die anderen Namen sind ausgedacht, manche Figuren von ganz verschiedenen Menschen beeinflusst», sagt Çimen. «Doch ich wollte mich nicht hinter einem Pseudonym verstecken, ich wollte zur Wahrhaftigkeit meiner Geschichte stehen.» 
In knapp zwei Dutzend Kapiteln erzählt Çimen von drei Sommern, die sie in dem Dorf verbringt: 1990 als Kind an der Schwelle zur Pubertät, 2013 schwanger mit ihrem ersten Kind in Begleitung ihres Mannes und schliesslich 2022, als sie dann endlich den Mut findet, das Schweigen ihres Vaters zu brechen. Mit Kinderaugen sieht Çimen Aprikosenbäumen, die zum Einkommen der Familie beitragen, sie beschreibt Fladenbrot und Joghurtsuppe, erzählt vom Kaffeesatzlesen mit den Tanten und vom Baden im Fluss. 
Erst nach und nach wird einem beim Lesen der Geschichte bewusst, dass die Erzählerin bereits 1990 als Kind hätte Hinweise sehen können auf die Geschichte ihrer Familie; da ist die Rede vom Fluss, der einst rot war, dort mischen sich in das Schimpfen des Grossvaters Worte, die nicht so recht in seine Sprache passen wollen. Doch erst im Jahr 2013 versteht die Erzählerin schlagartig, dass die Geschichte ihrer Familie mit dem Völkermord an den Armenier*innen zusammenhängt, jenem ersten grossen Genozid des 20. Jahrhunderts. Ein beiläufig wirkender Satz ist wie jenes Puzzleteil, das aus unzähligen Bruchstücken ein immer klareres Bild werden lässt.
 
Mit falschem Etikett versehen
Die Erzählerin des Textes teilt mit der Autorin nicht nur den Vornamen, sondern auch einige biografische Eckdaten. Özlem Çimen ist wie ihre Protagonistin in der Zentralschweiz aufgewachsen als Tochter von «Gastarbeitern» aus der Türkei – die Bezeichnung verwendet ihr Vater für sich selbst. 
Als junge Frau lässt sich Özlem Çimen zunächst zur Kindergärtnerin ausbilden, studiert später noch Heilpädagogik. Ihre dunklen Augen und Haare sorgen zusammen mit ihrem Namen dafür, dass sie für eine Türkin gehalten wird, eine Identität, an der in der Schweiz noch immer -viele Vorurteile haften. Ihre Eltern wehren sich nicht gegen das Label, auch wenn türkische Traditionen oder religiöse Feste kaum eine Rolle in ihrem Alltag spielen. Auch der in der Schweiz geborenen Çimen, die schon lange das hiesige Bürgerrecht hat, ist jahrelang selbst nicht bewusst, wie falsch das Etikett ist. Erst als erwachsene Frau erfährt sie, dass ihre Familie zur Volksgruppe der Zaza gehörte. Die Zaza bilden innerhalb der kurdischen Minderheit eine eigene Volksgruppe, reden ihre ganz eigene Sprache und pflegen entsprechende Bräuche. Die Mehrheit der Zaza sind alevitisch. Selbst in der Religionswissenschaft herrscht keine Einigkeit darüber, ob das Alevitentum eine Spielart des Islam ist oder aber eine eigenständige Religion.
 
Herumstochern in der Vergangenheit
Während die Entdeckung der Verwicklung ihrer Familie in den Genozid Çimen aus der Bahn wirft, faszinieren sie gleichzeitig ihre Zaza-Wurzeln. Ihr Vater jedoch kann nicht viel mit ihrem Herumstochern in der Vergangenheit anfangen. «Du bist mit einer türkischen Identität in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Du hast in der Schweiz studiert und hast einen Schweizer geheiratet. Jetzt sprichst du besser Deutsch als Türkisch. Du hast auch das Schweizer Bürgerrecht erlangt», lässt Çimen im Roman den Vater ihrer Protagonistin aufzählen. «Du hast dich doch assimiliert. Das war bei uns nicht anders. Mein Vater beherrschte zwar beide kurdischen Sprachen, Zaza und Kurmandschi. Aber er sah sich nur als Türke», fährt er fort. Es ist eine der Stellen im Roman, die danach schreit, die Parallelen und Unterschiede zu reflektieren zwischen dem Druck, sich anzupassen, der in der Schweiz herrscht, und jenem, der in der Türkei auf Minderheiten ausgeübt wird. Schliesslich gehört es zu den Kernanliegen Çimens, Verständnis für die Situation von Minderheiten zu wecken, ein Bewusstsein zu schaffen für Vielfalt. 
 
Schreckliche Wahrheit statt Schweigen
Natürlich sind in der Schweiz und in der Türkei nicht die gleichen Mechanismen am Werk – und doch können sie die Identitätsbildung von Menschen stark beeinflussen. Wäre ihr Leben denn anders verlaufen, hätte sie schon immer von ihren Zaza-Wurzeln gewusst, von der Verstrickung in den Völkermord? Vielleicht hätte ihr die Sprache der Zaza Selbstsicherheit gegeben, sagt Çimen, vielleicht wären selbst die schrecklichen Teile der Familiengeschichte besser gewesen als diffuses Schweigen. In ihrem Debütroman allerdings umschifft Çimen Überlegungen zum Assimilationsdruck in der Schweiz konsequent – wer weiss, vielleicht bieten sie dereinst Stoff für ein zweites Buch.

 

Text: Anna Chudozilov