Verletzlichkeit im Schutzmantel

Kunst & Baukultur

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Der Werktitel «Eichhorn» erfordert einiges an Fantasie. Es liegt jedoch auf der Hand: Die Aussage der formschönen Holzskulptur beim Alterszentrum Herti lässt sich mit einem zutiefst menschlichen Bedürfnis assoziieren.

  • Abgerundete, «aufquellende» Formen sind charakteristisch für die Holzskulpturen von Raffael Benazzi. «Eichhorn» steht am Eingang zum Alterszentrum Herti. (Bild: Andreas Faessler)
    Abgerundete, «aufquellende» Formen sind charakteristisch für die Holzskulpturen von Raffael Benazzi. «Eichhorn» steht am Eingang zum Alterszentrum Herti. (Bild: Andreas Faessler)

Zug – Aus der Distanz betrachtet wirkt die Skulptur – müsste man sie mit spontanen Worten umschreiben – wie eine überdimensionierte Kaffeebohne. In einem nächsten Augenblick mag man sich an eine Muschel erinnert fühlen. Dieser Eindruck ist gar nicht so abwegig, befasst man sich mit dem Künstler dahinter und dessen zentralen Themen im Schaffen, auch wenn der Titel des Kunstwerkes – «Eichhorn» – wenig mit einer Kaffeebohne oder einer Muschel gemein hat.

Erst aus der Nähe erschliesst sich einem Form und Zusammensetzung. Es handelt sich im Wesentlichen um ein Gebilde aus drei (miteinander verbundenen) Teilen mit äusserlich sanften, handschmeichlerischen Rundungen. Es besteht aus Ulmenholz in dunklem Braunton. Zwei massive, schalenförmige Holzelemente scheinen ein partiell sichtbares Kernstück zu umschliessen, als wollten sie es schützen. Seitlich geben die Öffnungen den Blick ins Innere frei. Dort sind kantige Ausformungen und kerbenartige Einschnitte erkennbar – als würde man in das verletzliche Innere eines lebendigen Organismus schauen.

Wiederkehrendes Motiv der Höhlung

Das gewichtige Holz-Kunstwerk stammt vom Schweizer Bildhauer Raffael Benazzi (*1933). Bereits in den 1950er-Jahren war Holz das bevorzugte Arbeitsmaterial Benazzis. Die Rundungen und organisch-abstrahierenden Formen in seinen Skulpturen erinnerten stets an Samen, Knospen oder Früchte – Inspirationsquell für den Bildhauer war ursprünglich die Weiblichkeit. Vielfach findet man bei seinen biomorphen Kunstwerken das Motiv der Höhlung. Im Lauf der Zeit wurden seine Skulpturen immer voluminöser. Zuweilen bearbeitete er ganze Baumstämme dahin gehend, dass sie ihr vulnerables Innenleben preisgaben.

Grob lassen sich Raffael Benazzis Werke – seien sie aus Holz, Bronze oder Alabaster – in drei Haupt-Gestaltungsgruppen unterteilen: Organisch-Quellendes, Verschachteltes, Ummantelndes. «Eichhorn» vereint Anleihen von allen drei Gruppen in sich. Wie sich bei dieser formschönen Skulptur eine Assoziation zum kleinen Waldnager finden lässt, ist dem Vorstellungsvermögen der Betrachter überlassen. Vielmehr findet man im Werk die Verbildlichung eines tief im Menschen verankerten Grundbedürfnisses: dasjenige nach Schutz und Geborgenheit.

Der angestammte Standort von Raffael Benazzis «Eichhorn» ist der Hofseitige Eingangsbereich des 1984 eröffneten Alterszentrums Herti. Dort ruhte die im selben Jahr entstandene, knapp 90 mal 95 Zentimeter grosse Skulptur auf einem hochrechteckigen Betonsockel. Gegenwärtig ist sie vor dem gegenüberliegenden, parkplatzseitigen Eingang platziert – auf einer kastenförmigen Konstruktion aus Stahlblech.

Der Bezug zum Standort

Als «Willkommenskunstwerk» einer Institution für betagte, hilfs- und pflegebedürftige Menschen liegt der Bezug von Raffael Benazzis Skulptur auf Zweck und Aufgabe dieses Ortes somit auf der Hand: Menschen im fortgeschrittenen und hohen Alter sind auf ein besonders behütendes Umfeld angewiesen, auf einen Ort, der ihnen ein Gefühl der Sicherheit und des gut aufgehoben Seins vermittelt.

Der in Rapperswil geborene Bildhauer Raffael Benazzi war 1966 Empfänger des Hans-Arp-Preises. Studienreisen in die USA in den 1970er-Jahren führten ihn an die dortige urbane Kunstszene heran, was seine Schaffensweise nach seiner Rückkehr weiter beeinflusste. Benazzis Skulpturen sind auf dem Kunstmarkt häufig anzutreffen und ebenso in der Öffentlichkeit. In Zug beispielsweise an prominenter Stelle in der grossen Halle des Metallizentrums sein ährenförmiges Kunstwerk auf der Brüstung über dem Eingangsbereich zur Migros. (Text von Andreas Faessler)

 

Hinweis

In der Serie «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fund­stücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.