«Für mich war er ein grosses Idol»

Dies & Das

,

Ein Findling auf dem Gottschalkenberg mit einer unauffälligen Inschrift erinnert an einen illustren Zuger. Er hat dem Kanton in mancher Hinsicht zu seiner Identität verholfen.

  • Wenn Madeleine Sidler-Stocker am Gedenkstein für ihren Vater Fridolin Stocker vorbeikommt, spürt sie jeweils grosse Dankbarkeit. Er hat sich über Jahrzehnte für den Kanton Zug und alles Zugerische eingesetzt. (Bild Stefan Kaiser)
    Wenn Madeleine Sidler-Stocker am Gedenkstein für ihren Vater Fridolin Stocker vorbeikommt, spürt sie jeweils grosse Dankbarkeit. Er hat sich über Jahrzehnte für den Kanton Zug und alles Zugerische eingesetzt. (Bild Stefan Kaiser)

Menzingen – In Zug verbreitet sich die bestürzende Kunde vom Ableben Fridolin Stockers, der als Lehrer, Wandervater und Autor von Theaterstücken weitherum bekannt war.» So lautet der Eintrag in einem Zuger Kalender zu den Geschehnissen am 9. Juli 1964. Genau 50 Jahre später erwartet mich Stockers jüngste Tochter, Madeleine Sidler-Stocker, beim Lagerhaus auf dem Gottschalkenberg, einem Ort, der mit dem nachhaltigen wirken Fridolin Stockers eng in Verbindung steht. Wir gehen am Restaurant vorbei und folgen der Waldstrasse bis zur Weggabelung beim Charenboden. Zwei rote Sitzbänke und eine Feuerstelle gibt es hier und einen grossen Kalksteinfindling. Es handelt sich um den sogenannten Stocker-Stein, und der Name verräts: Er erinnert an Madeleine Sidlers Vater. Der Stein trägt eine Inschrift, die wegen Flechtenwuchs und Verwitterung kaum mehr auffällt. Da steht: «Dem grossen Förderer des Wanderns Fridolin Stocker 1898–1964».

 

Wer also war dieser Fridolin Stocker, dem hier auf 1154 Meter über Meer ein so grosser, markanter Stein gewidmet ist? Dass er ein leidenschaftlicher Wanderer war, wissen wir spätestens seit der Lektüre der Inschrift, doch dazu später. Was Fridolin Stocker auf jeden Fall war: ein echtes Zugerblut, der Natur zugetan wie kaum ein anderer, heimatverbunden und eine weit über die Kantonsgrenzen bekannte Persönlichkeit. Sein breites Wirken ist im Laufe des letzten Semijahrhunderts leider etwas vergessen gegangen. Doch Zeitgenossen und Schüler von ihm Stocker war Primarlehrer im Kanton Zug – wissen noch immer erstaunliche Details zu berichten, wie Madeleine Sidler ausführt. Sie beschreibt mir ihren Vater und zeichnet damit das Bild eines weltoffenen, sympathischen und gutherzigen Mannes, der im Denken seiner Zeit immer einen Schritt voraus war. «Seine Grundstimmung war stets fröhlich», erinnert sich die Tochter und betrachtet den Stein mit der Inschrift. Wandern war Fridolin Stockers liebste Freizeitbeschäftigung und gleichsam grösste Leidenschaft. Und hierbei leistete er im Kanton Zug, ja gar landesweit, bemerkenswerte Pionierarbeit und wirkte als Vorsteher der Schweizerischen Ar­beitsgemeinschaft für Wanderwege stark fördernd auf den Ausbau des Wegnetzes. Er verfasste zahllose Berichte und Publikationen. Er wanderte beispielsweise unermüdlich den Kanton Zug und das gesamte Rigi-Gebiet ab, dokumentierte und fotografierte, zeichnete und beschrieb die Routen. Mit viel Passion und Aufwand verfasste Stocker darauf das «Schweizer Wanderbuch Zugerland-Rigi Nr. 10», das 1954 publiziert wurde. Madeleine Sidler hält ein Exemplar der ersten Ausgabe in der Hand und betrachtet es würdigend. «Für mich war mein Vater ein grosses Idol», sagt sie. «Und ich habe stets für ihn geschwärmt, denn er hatte ein ausgezeichnetes Gespür für alles, was Kindern gefällt.» Als Primarlehrer zog es ihn mit seiner Klasse wann immer möglich raus in die Natur. «Die Schulstunden im Freien freuten jedoch nicht immer alle Eltern», sagt Madeleine Sidler amüsiert. «Er war stets erpicht, bei den Kindern die Freude an der Natur zu wecken.»

Als Initiant und Moderator der populären Radiowanderungen bei Radio Beromünster war Fridolin Stocker einem besonders breiten Publikum bekannt. Jeweils Freitagmittag wurde im Haus zum Zöpfli in Zug eine neue Wanderroute zusammengestellt. Am Wochenende schliesslich trafen sich Wanderfreunde von bescheidenen 30 bis zu überwältigenden 1500 an der Zahl – am ausgemachten Treffpunkt und nahmen Stockers Tour in Angriff. Fridolin Stocker wanderte sich sprichwörtlich in die Herzen der Schweizer, die ihn bald liebevoll «Wandervater» nannten. Seine Heimatverbundenheit war nahezu grenzenlos, war er doch auch leidenschaftlicher Verfechter alles Heimattypischen, weiss seine Tochter zu berichten. Er habe grossen Wert auf das Zugerdeutsch gelegt. Das schlug sich nicht zuletzt auch in seinen zahlreichen, meist mit grösstem Wohlwollen aufgenommenen Volks-, Radio- und Theaterstücken nieder. Als Obmann der Mundartvereinigung Gruppe Zugerland machte sich Stocker in der Folge auch als Mundartautor einen Namen. In Stücken wie «Amerika-Melk», «Mister John», «De verschüttet Brunne» oder «Bilder us de Gschicht vo Cham» wurde das Zugerdeutsch regelrecht zelebriert. In Gedanken an seinen Tod veranstaltete die Mundartvereinigung am 8. Oktober 1965 einen Fridolin-Stocker-Abend.

Ein besonders grosses Verdienst Fridolin Stockers ist sein massgeblicher Einfluss auf den Kauf des Berghauses Gottschalkenberg durch die Stadt Zug. Madeleine Sidler eröffnet mir, wie es sich einst zugetragen hat: «Meine Mutter spielte in der Ammannsmattkapelle Harmonium. An manchen Sonntagen luden meine Eltern den Priester, der die Messe gelesen hatte, zum Frühstück ein.» So habe ihr Vater erfahren, fährt sie fort, dass der Orden der Salvatorianerpater finanzielle Probleme mit seinem Ferien- und Erholungsheim auf dem Gottschalkenberg hatte. «Und wie es oft im Leben glückliche Zufälle gibt, vermittelte mein Vater den Kontakt zur Stadtbehörde. Im Jahre 1957 kaufte die Stadt Zug dann das Haus und richtete das Schulheim ein mit einem zugehörigen Restaurant.» Seither haben die Zuger Schulkinder ein schönes Lagerhaus in unmittelbarer Umgebung, ohne eine stundenlange Anreise auf sich nehmen zu müssen.

So liegt der Stocker-Stein als Zuger Kulturgut an der Wegkreuzung im Charenboden, als hätte er seit Urzeiten seinen Platz hier gefunden ganz nahe beim Berghaus Gottschalkenberg. Es gibt jedoch noch einen zweiten Stocker-Stein in Sachseln am Weg nach Giswil. Dieser entstammt dem Hochstollenmassiv im Kanton Obwalden. Fridolin Stockers letzte offizielle Radiowanderung vor seinem letalen zweiten Herzinfarkt anno 1964 nämlich führte von Melchsee-Frutt über das Abgschütz ins Kleine Melchtal. «An dieser Wanderung nahmen etwa 1000 Leute teil, darunter auch ich», sagt seine mittlerweile 73-jährige Tochter. Auf Initiative der Radiowanderer ist der Kalksteinfindling in Sachseln eigens aus dieser Region am Hochstollen ins Tal gebracht worden. Ob unser Stocker-Stein auf dem Charenboden am Gottschalkenberg, der ebenfalls dank den Radiowanderern existiert und am 17. Oktober 1965 eingeweiht worden ist, ebenfalls aus der Frutt-Region stammt, geht aus den vorliegenden Informationen nicht hervor. Da es sich aber um dasselbe Gestein handelt, ist es naheliegend.

Etwas schade sei jedoch, dass die Inschrift durch die Flechten und das Moos so unauffällig geworden sei, offenbart mir Madeleine Sidler. «Aber auf der anderen Seite ist das eben der Lauf der Natur. Und das wäre eigentlich auch ganz im Sinne meines Vaters. Dennoch wäre es schön, wenn der Stein etwas mehr beachtet würde.» Madeleine Sidler selbst viele Jahre lang Lehrerin in Zug und allem Zugerischen zugetan – ist ebenso wie ihr Vater leidenschaftlich und mit Freude auf Wanderschaft. Allein das Gebiet am Gottschalkenberg hat sie unzählige Male erwandert. «Und jedes Mal, wenn ich am Stocker-Stein vorbeikomme, spüre ich eine grosse Dankbarkeit.» (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut!» gehen wir wöchentlich mehr oder weniger auffälligen Details mit kulturellem Hintergrund im Kanton Zug nach.