Wie fühlt sich Heimat an?

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Mit «Ex Voto» bringt Regisseur Erich Langjahr den wohl Zugerischsten aller Filme nach über 30 Jahren erneut ins Kino. Höchste Zeit, wieder einmal über Heimat nachzudenken.

  • Erich Langjahr will zeigen, was er gesehen hat. (Bild: Pit Bühler)
    Erich Langjahr will zeigen, was er gesehen hat. (Bild: Pit Bühler)

Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der Dezember-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht's zu den anderen Artikeln, und hier gibt's das Magazin als Pdf.

Wenn es etwas gibt, was Filmemacher Erich Langjahr nicht ausstehen kann, dann sind es theoretische Konstrukte, die seine Werke erklären sollen. Langjahrs Filme sollen nämlich überhaupt nichts erklären, sondern bloss zeigen. Sie sollen weder bestätigen noch dementieren und schon gar nicht belehren. «Der Zuschauer soll miterleben, was ich erlebt habe», sagt der Zuger Dokumentarfilmer, «und den Film selber zu einem Ganzen machen.»

Die Fragen stellt man sich selbst

Langjahrs Werke zielen niemals auf den Kopf, sondern immer mitten ins Herz, direkt auf das Empfinden. Das gilt für alle seine Filme gleichermassen. Vielleicht einen Tick mehr noch gilt dies für «Ex Voto», Langjahrs wohl persönlichsten Film, der 1986 Premiere feierte und nun als aufgefrischte, digitalisierte Reprise wieder in die hiesigen Kinos kommt.
Aus diesem Anlass sitzen wir nun hier, in Langjahrs Arbeitszimmer im luzernischen Root, wo der gebürtige Zuger seit nunmehr fast 40 Jahren lebt, und wollten von ihm eigentlich wissen, was es mit «Ex Voto» denn so auf sich habe. Eigentlich. Denn darauf lässt sich der 74-jährige Filmemacher nicht ein. Stattdessen drückt er uns die DVD in die Hand und verspricht: «Sollten nach dem Anschauen Fragen zum Inhalt des Films auftauchen, können Sie damit gerne auf mich zukommen.»
Langjahr lächelt verschmitzt, als wüsste er genau, dass nach der Filmschau keine solchen Fragen auf ihn zukommen werden. Tatsächlich ist es die eigene Gefühlswelt, die es nach dem Betrachten des knapp zweistündigen Dokumentarfilms zu befragen gilt. Der Blick richtet sich automatisch nach innen, die Fragen kreisen um das eigene Erleben. Langjahr seinerseits würde darauf nicht antworten wollen.

Wie fühlt sich Heimat an?

Verständlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, wovon «Ex Voto» handelt. Es geht um Heimat, diesen sowohl bedeutungsschwangeren wie auch diffusen Begriff, der mit Worten gar nicht recht zu fassen ist. Langjahr nähert sich ihm denn auch fast kommentarlos, dafür c umso bildgewaltiger. «Ex Voto» ist die poetische Antwort darauf, was Heimat ausmacht – für Regisseur Langjahr natürlich, aber, und genau darin liegt das Bestechende seiner Filme, ebenso für den Zuschauer.
«Es ist ein Film über die Landschaft meiner Jugend», erzählt Langjahr lapidar. «Es geht um die Bedeutung, eine Heimat zu haben, darum, Heimat in ihrer Widersprüchlichkeit zu fassen.» Das Setting und zugleich die Hauptdarstellerin von «Ex Voto» ist denn auch die Innerschweiz der beginnenden 1980er-Jahre. Die Landschaft von Langjahrs Kindheit und Jugendzeit ist das Zugerland, wo der Film hauptsächlich spielt. Dort treffen wir etwa auf eine Bauernfamilie, die in ihrem Gehöft Weihnachten feiert, auf Nonnen aus dem Kloster Maria Hilf, die mit schweren Heurechen die steilen Hänge am Gubel beackern, auf Landschaftsgestalter und -verformer, auf Militaristen, Motocrossfahrer und Fortschrittsjünger.

Erlebniswelt Wirklichkeit

Und dann ist da immer wieder Trudi Hegglin, die singende und jodelnde Bäuerin, deren Auftritt sich wie ein roter Faden durch den Film zieht. «Aus dem Herzen muss es kommen, aus dem Herzen», wiederholt sie singend ihr Mantra und geht mit einer grossen Portion Gottesehrfurcht ihrer bäuerlichen Arbeit nach. Sie heut, erntet Obst, stickt, kocht und schlachtet Tiere – versunken, verträumt, ganz bei sich.
«So ist die Zeit in diesem Leben vorbei», singt die robuste Bäuerin, während sie einem Hasen das Fell vom Körper zieht, dem sie kurz zuvor die Kehle durchtrennt hat. Die Szene ist kaum zu ertragen. «Ich hatte lange Zeit Mühe damit», gesteht auch Langjahr, «bis ich erkannte, mit wie viel Respekt Frau Hegglin dem Kaninchen begegnet, im Leben ebenso wie im Tod.» Es ist die Wirklichkeit, die einen in «Ex Voto» mitunter wie ein Fausthieb frontal trifft.
Man merkt, dass Erich Langjahr viel Achtung für die Bauern hegt. Als Kind wollte er selbst einer von ihnen werden. «Der Wunsch, die eigene Existenz in einem innigen Verhältnis mit der Natur zu gestalten, steckt tief in uns allen drin», ist der gelernte Chemielaborant überzeugt. «Ich wäre gerne Bauer geworden, tat dies aber aus zwei Gründen nicht: Erstens kann ich keine Tiere töten. Zweitens habe ich irgendwann festgestellt, dass Bauern gar nie Ferien haben», erzählt er und lacht.

Bäuerin im Supermarkt

Trudi Hegglin bildet indes so etwas wie den archaischen Kontrastpunkt zum Modernisierungsschub, den der Kanton Zug zu jener Zeit erlebte. «Der Glaube, der nun herrscht, heisst Fortschritt», kommentiert Langjahr. Ein Fortschritt, der das dargestellte Stück Heimat arg bedroht: Neubauten schiessen wie Pilze aus dem Boden, der Kiesabbau zieht gigantische Landschaftsveränderungen nach sich, Maschinen übernehmen die Arbeit, Autobahnen werden gebaut, Land wird verkauft.
Mittendrin: Menschen, die wie Frau Hegglin natürlich von dem ebenso gewaltigen wie unaufhaltsamen Transformationsstrudel dieser Zeit eingesogen werden. In einer fast siebenminütigen Sequenz folgen wir der Bäuerin auf ihrem langen Fussmarsch hinunter in die Agglomeration, wo sie in Plastikfolie eingeschweisste Kopfsalate, Wurstwaren und sonstige Lebensmittel einkauft. Wie mechanische Ungetüme laben sich währenddessen draussen die Bagger am Erdenreich und formen so Lebens- und Kulturraum derjenigen um, die vor ihnen da waren.

Verschwundene Schlittelhügel

Was ist aus der Heimat geworden? «Zug hat sich in kurzer Zeit enorm stark verändert», sagt Langjahr, der 1944 in Baar geboren wurde und im Metalli-Quartier aufgewachsen ist. «Ich fuhr in meiner Kindheit Ski auf dem Zugerberg und konnte damals direkt bis vor die Haustür fahren. Die Zersiedelung hat diese Piste unter sich begraben. Unsere Schlittelhügel gibt’s heute nicht mehr.»
Langjahr erzählt dies ohne jegliche Wehmut in der Stimme. Ein Nostalgiker, betont er, sei er definitiv nicht. «Zug gefällt mir nach wie vor unheimlich gut. Ich bin jemand, der im Jetzt lebt. Erst in dem Masse, wie man das, was hinter einem liegt, versteht, kann man den Schritt nach vorne machen. Gerade das ist es ja, was Identität überhaupt erschafft. Identität bildet sich mit dem Schritt vom Alten ins Neue. Wo kämen wir denn mit Nostalgie hin?» Im Film sagt er einmal: «Ich habe das Vaterland, das ich habe. Kein anderes. Für die Gnade dieser Einsicht sag ich meiner Heimat Dank.»
Am Ende ist «Ex Voto» eine Reise ins Ich, der Suche nach der eigenen Identität mit filmischen Mitteln. Langjahr sagt: «Ich wollte ergründen, wer ich bin und welche Einflüsse mich geprägt haben. Ich hatte das Bedürfnis, dem Elementaren des Lebens und Überlebens näherzukommen.» Dass Langjahr nicht gerne über sich selbst spricht, «weil ich ungern im Mittelpunkt stehe», wie er sagt, heisst nicht, dass er eine unzugängliche Person ist. Wer ihn kennen lernen möchte, schaut sich seine Filme an.
Gerade «Ex Voto» ist in dieser Hinsicht ein äusserst intimes Werk, ohne dabei allerdings je zum kitschigen Egotrip zu werden. Auch ist es dem selbst ernannten Bildermenschen Langjahr gelungen, einen Heimatfilm zu drehen, der so rein gar nichts mit dem romantisch Verklärten und dem patriotisch Banalen zu tun hat, mit dem viele andere durchtränkt sind. «Ex Voto» ist ein cineastisches Gedicht, in dem nichts das Fantastische von der Wirklichkeit trennt.

Prinzip Langsamkeit

Bei seinen Filmen macht Langjahr alles selbst: Er schreibt, führt Regie, filmt, produziert und verleiht. Einzig seine Frau Silvia Haselbeck greift ihm bei der Vertonung unter die Arme. Diese Unabhängigkeit ist ihm heilig, auch wenn sie mit einigen Anstrengungen verbunden ist. Ganze sieben Jahre dauerte es, bis «Ex Voto» fertiggestellt war. Langjahrs filmisches Prinzip ist die Langsamkeit.
Das Ergebnis ist sehenswert. «Ex Voto» oszilliert zwischen der Geborgenheit der alten Welt und dem Verführerischen des Neuen. Das geht uns alle an. Obschon mittlerweile über 30 Jahre alt, hat der Film nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil regt er gerade in einer Zeit der Rückbesinnung auf das national Eigenständige dazu an, sich wieder einmal vertiefte Gedanken über die eigene Heimat zu machen.

(Text: Philipp Bucher)