Ein finaler Abschied in Würde

Literatur & Gesellschaft

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Evi Ketterer arbeitet im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Spitex Zug als Pflegefachfrau im spezialisierten Palliative-Care-Team. Sie hat Menschen, die sie auf ihrem letzten Weg betreut hat, eine Stimme gegeben.

  • Evi Ketterer hat ein bewegendes Buch über Sterbende geschrieben, die sie auf ihrem letzten Gang betreut hat. (Bild: Stefan Kaiser)
    Evi Ketterer hat ein bewegendes Buch über Sterbende geschrieben, die sie auf ihrem letzten Gang betreut hat. (Bild: Stefan Kaiser)

Zug – Der Tod ist allgegenwärtig. Es gibt kaum eine Nachrichtensendung oder eine Zeitungsausgabe, in denen nicht über Tote geredet oder geschrieben wird. Doch trotzdem bleibt der Tod – zumindest in der westlichen Welt – ein Tabuthema. Viele Zeitgenossen haben noch nie einen Toten aus der Nähe gesehen. Die eigene Vergänglichkeit wird nach Möglichkeit einfach verdrängt.

«Die Toten haben keine Lobby», sagt Evi Ketterer. Die 50-Jährige besitzt neben ihrer Grund­ausbildung als Pflegefachfrau ­Diplome in Intensivpflege, der Anästhesie und der spezialisierten Palliative Care und arbeitet seit 2013 im Palliativ-Care-Team der Spitex Kanton Zug. Sie ist als Sterbebegleiterin somit tagtäglich mit dem Tod konfrontiert. Nun hat sie im Buch «Geschichten intimer Beziehungen – Sterbebetreuung einmal anders erzählt» Menschen eine Stimme gegeben, die sie auf ihrem letzten Weg begleitet hat. Dadurch schafft Evi Ketterer einen Bezug zu diesen Menschen mit ihren Nöten, Sorgen und Wünschen. Sie versucht, wie sie sagt, «nicht romantisierend, nicht versachlicht, aber auch nicht belehrend zu sein». Sie habe vielmehr Geschichten erzählen wollen, wie sie sich auch unter Lebenden abspielen: «Der Mensch bleibt Mensch, und das bis zu seinem letzten Atemzug.» Bewusst hat sie «einfache Worte» gewählt. «Es sind meine Texte, und ich habe sie so geschrieben, wie mir der Schnabel gewachsen ist.»

Gedächtnisprotokolle auf Papier verewigt

Evi Ketterer hat Erlebnisse mit den Sterbenden aus ihrem Gedächtnis niedergeschrieben: «Es ist mir leicht gefallen und hat mir Freude bereitet, mich an die Menschen zu erinnern, aber es hat mich natürlich jedes Mal gleichzeitig auch traurig gestimmt.» Das Sterben sei so individuell wie das Leben, schildert sie in einer ihrer Beobachtungen. Wichtig sei ihr gewesen, dass in ihrem Buch «der Mensch als Mensch» dargestellt werde und nicht als Objekt: «Ich erzähle die Geschichte, die ich mit den Sterbenden geteilt habe.» Da braucht es keine gekünstelte Dramaturgie. Selbstkritisch sagt sie: «Das Buch ist nicht perfekt, aber das ist auch das Leben nicht.» Es ist jede Zeile wert, gelesen zu werden.

Ihr Bestreben in ihrer täglichen Arbeit sei immer, dass «ein wertvolles Leben würdevoll zu Ende gehen kann». Dass diese Würde gepaart mit einer gehörigen Portion Respekt gegenüber den Sterbenden nicht jedem vergönnt ist, weiss Ketterer aus eigener Erfahrung. Sie ist auf Intensivstationen sehr oft mit dem Tod in Berührung gekommen, aber mit dem der «industrialisierten Art». Menschliche Wärme ist dort – im Gegensatz, wenn ein Palliativ-Care-Team im Einsatz ist – selten zu erwarten.

Eine Leserin hat ihre Eltern im Buch wiedererkannt

Um allfällige Rückschlüsse auf die wahren Identitäten der beschriebenen Menschen auf ihrem letzten Gang zu vermeiden, arbeitet Evi Ketterer in ihrem Buch mit Fantasienamen, doch die Ereignisse stimmen bis auf den letzten Punkt. Die Tochter eines Hinterbliebenen hat das Buch von ihrem Vater geschenkt bekommen und schreibt Ketterer: «Die ersten paar Worte reichten, um zu wissen, dass dies ihre Geschichte ist. Das ist das Team, das ich kenne.»

Doch wie schafft es Evi Ketterer, um ihre in den Augen vieler schwere Arbeit zu bewältigen? «Du musst mit Herzblut dabei sein, und auch eine gewisse Lebenserfahrung ist sehr hilfreich.» Sie hat denn auch verschiedene Zusatzausbildungen im Bereich Palliative Care absolviert. Die Kraft, die sie zur Bewältigung ihrer Aufgabe braucht, rührt aber auch daher, dass sie seit 1995 eine praktizierende Buddhistin ist, die im Jahre 2002 zur Zen-Priesterin geweiht wurde. Sie hat zudem von 2003 bis 2010 in Los Angeles als Priesterin gewirkt und Kurse zur spirituellen Sterbebetreuung für Professionelle und Laien geleitet. «Im Buddhismus ist», so erzählt Ketterer, «der Tod ein zentrales Thema.» Doch den Zugang zur Spiritualität hat die 50-Jährige schon früher gefunden: «Ich war schon immer ein religiöser und suchender Mensch, der unbeantworteten Fragen auf den Grund gehen wollte.» Den Zugang zum Buddhismus hat die gebürtige Deutsche bis heute nicht verloren. In ihrem Heim hat sie sich einen Raum eingerichtet, in dem sie regelmässig meditiert. Aber nicht nur das. Sie betet auch für die Menschen, die sie bis zu ihrem Tod begleitet hat: «Ich mache das jeweils 49 Tage über deren Todestag hinaus.» Sie erzählt, dass diese Handlungen «den Sterbenden etwas bedeuten». Doch wieso betet Evi Ketterer für die Menschen, die von dieser Welt Abschied nehmen mussten? «Was kommt, weiss ich nicht, aber dieses Ritual hilft auch mir, einen Abschluss zu finden und mich für die nächsten Menschen zu öffnen.» Einen Grund für dieses Ritual kann Evi Ketterer nicht nennen. «Ich mache es einfach.»

Im Schlusswort ihres Buches schreibt die Spitex-Mitarbeiterin treffend: «Eine Geschichte ist nur dann heil und ganz, wenn man sie zu Ende erzählt. Irgendwie scheinen wir uns jedoch davor zu scheuen, das Sterben und das Ende des Lebens zu erzählen, entweder, weil wir Angst haben, oder eben, weil es uns zu intim erscheint, darüber zu reden.» (Marco Morosoli)

Hinweis

Do, 4. Mai 2017: Evi Ketterer liest in der Bibliothek Zug (St.-Oswald-Gasse 6, Zug) aus ihrem neusten Buch «Geschichten intimer Beziehungen – Sterbebegleitung einmal anders erzählt». Anschliessend Diskussion. Das Taschenbuch (176 Seiten) ist im Handel erhältlich und kostet 14.90 Franken (ISBN 978-3-7345-3282-5).