Eine Familie gerät in Schieflage
Literatur & Gesellschaft
Die neuste Ausgabe der persönlichen Buchtipps von Mitarbeiterinnen der Zuger Bibliotheken bietet viele Denkanstösse. Sei es dazu, wie man mit Kindern über das Thema Demenz spricht, wie die Sesshaftigkeit das menschliche Dasein verändert hat oder warum das Alleinsein richtig gut sein kann. Viel Spass beim Schmökern!
Menzingen – Dieser Artikel ist in der Ausgabe März 2022 des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Büchertipps.
Eva Rechsteiner, Bibliothek Menzingen
Ein verlängerter Sommer, ein Häuschen auf einer kleinen Insel in den finnischen Schären und eine kleine Familie: Dies tönt sehr idyllisch, doch es wird schnell klar, dass dem nicht so ist. Etwas sehr Prägendes muss geschehen sein; zu sehen an Emmas grosser Narbe am Kopf, zu spüren an der Spannung in der Luft.
Emma war als Fotografin oft in Kriegsgebieten unterwegs und stets auf der Suche nach dem perfekten Bild. Privat ein Lebemensch, hatte sie ihre Emotionen zu den traurigen Geschehnissen vor Ort stets gut verdrängen können. Bis sie Mutter wurde und die Fassade zu ihrem Innersten zu bröckeln begann – aber das war noch im alten Leben.
Eingeholt von der Vergangenheit
Jetzt erwacht sie jeden Morgen mit heftigen Kopfschmerzen und ist froh um die früher verschmähte Einsamkeit auf der Insel. Nur an guten Tagen schafft sie es, mit ihrer Tochter Fanni und ihrem Mann Joel etwas Zeit zu verbringen oder ihren Spaziergang um die Insel zu machen. Ihre Gedanken kreisen unaufhörlich. Sie versucht, sich an die Umstände ihres Unfalls zu erinnern. Zu schaffen machen ihr ebenfalls Joels Distanziertheit und seine unausgesprochenen Vorwürfe.
Wann genau haben sie angefangen, sich auseinanderzuleben? Warum überhaupt hat sie sich damals in diesen ruhigen und häuslichen Mann verliebt? Das absolute Gegenteil von ihr selbst! Warum redet er nicht? Wird sie ihn verlieren? Sorgen um Fanni erleichtern die Situation auch nicht. Ob sie mehr Zeit mit ihr hätte verbringen sollen? Wie kann sie ihr jetzt noch eine gute Mutter sein, wenn die Schmerzen ihre Tage diktieren? Und dann sind da noch die Bilder, die sie einholen: Menschen aus der Vergangenheit und Verstorbene, die Emma Tag für Tag besuchen und verfolgen.
Joel fällt es schwer, Emmas Zustand zu fassen, sie zu verstehen. Dass sie mit Gespenstern spricht, macht es ihm schwer, sie ernst zu nehmen. Gerne würde er ausbrechen, für ein paar Tage die Insel verlassen. Doch dies scheint unter den aktuellen Umständen unmöglich.
Ungesagtes, Zwischentöne und Feinheit
Viel Unausgesprochenes liegt in der Luft, ist es Rücksicht oder Kapitulation? Oder ist es nur die Unmöglichkeit, den Weg aus dem eigenen Gedankenkarussell und die richtigen Worte zu finden?
Es ist ein sehr stiller Roman. Er berührt und fesselt mit vielen Feinheiten, Zwischentönen und einer grossen Portion Ehrlichkeit. Er ist voller Fragen, voller Einsamkeit und Ängste, voller Hoffnung und Liebe, voller Leben.