Die blutte Jungfrau auf dem Brückendach

Dies & Das

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Eine alte Sage erzählt die Geschichte von einem jungen Mädchen, das von einer vermeintlich bösen Frau in die Irre geführt worden ist. Die Alte war keine Hiesige, wodurch die Geschichte auch ein bisschen Aktualität behält.

  • Auf dem Dach der alten Lorzentobelbrücke wurde das entkleidete Ammeli aus Menzingen gefunden. (Bild Stefan Kaiser)
    Auf dem Dach der alten Lorzentobelbrücke wurde das entkleidete Ammeli aus Menzingen gefunden. (Bild Stefan Kaiser)

Menzingen – Sagen und Legenden gehören wohl zum kostbarsten immateriellen Kulturgut einer Gemeinde. Lange wurden sie nur mündlich überliefert, in vielen Fällen trieb die Fantasie der Leute abenteuerliche Blüten beim Weitererzählen, wobei stets eine weitere Portion Wahrheit ver­loren ging. Irgendwann haben tüchtige Lokalhistoriker die Geschichten niedergeschrieben. Wir wollen hier eine dieser Geschichten aufgreifen, welche der einstige Zuger Stadtbibliothekar Hans Koch (1907–1987) im Jahre 1955 gesammelt und im Buch «Zuger Sagen und Legenden» veröffentlicht hat. Unser Bild von der alten Lorzentobelbrücke zeigt hierbei einen der Schauplätze der Handlung, die nicht zuletzt auf ein aktuelles gesellschaftliches Thema anspielt.

Hans Koch erzählt die Geschichte vom Schwabenhudi, einem uralten Mütterchen, das vor langer Zeit in Menzingen gelebt hat. Es war einst vom Schwabenland ins Zugerland gekommen. Auf den Bauernhöfen von Menzingen sass das Schwabenhudi oft am Spinnrad und spann Garn für die Besitzer. Bei kirchlichen Feiern und Begräbnissen wollte es stets als Letztes den Ort des Geschehens verlassen. Das Weibchen soll allerdings mit dem Teufel im Bunde gestanden haben und des schwarzen Zaubers kundig gewesen sein.

Das Schwabenhudi spann auch ab und zu auf dem Hof Oberbüelti, wo das fröhliche Jungfräulein Ammeli – in der verniedlichenden Landsprache wohl «Jümpferli» genannt – wohnte. Das lebensfrohe Mädchen hätte so gerne einen schönen und vor allem reichen Mann gehabt. Das wusste das Schwabenhudi, und es versprach dem heiratswilligen Mädchen, es werde ihm so einen besorgen. Es solle nur mit ihm kommen. Sie gingen ins Lorzentobel. Da kam plötzlich wie aus dem Nichts ein herrschaftlicher Wagen angerollt. Ihm entstieg ein edler junger Herr in schönstem Gewand und sprach das Ammeli an. Doch ob all der Pracht war dieses so ergriffen und geblendet, dass es zu keinem Wort fähig war und in Ohnmacht fiel. Mittlerweile machte man sich in der Oberbüelti Sorgen, und man suchte die Tochter. Die Mutter lief ins Lorzentobel und fand das Ammeli auf dem Dach der alten Lorzentobelbrücke sitzen. Das Mädchen wusste nicht, wie es dort hingeraten war.

In einer anderen überlieferten Variante erzählt Hans Koch nach, dass das Ammeli auf seiner Suche nach einem edlen Angebeteten im Lorzentobel unvermittelt in eine fröhlich tanzende Gesellschaft geraten sei. Man legte dem Mädchen gleich prächtige Tanzkleider vor. Ammeli wollte diese anziehen. Man gehiess das anständige Mädchen, dafür den züchtigen Überwurf abzulegen. Ammeli aber weigerte sich. In diesem Augenblick lösten sich die prächtigen Gewänder und die ganze Gesellschaft in grauem Rauch auf. Am nächsten Tag fand man das Ammeli splitternackt auf dem Brückendach sitzen.

Dahinter konnte nur das dubiose Schwabenhudi stecken. Als die Alte wenig später wieder auf dem Hof Oberbüelti erschien, wurde sie mit Schimpf und Schande hinfortgejagt. Das Schwabenhudi kochte vor Wut. In der Nacht deckte es aus lauter Zorn das ganze Hausdach vom Hof Luegeten ab und zog daraufhin weiter nach Kappel am Albis, wo ein kleines Kind seinen Weg kreuzte. Das Schwabenhudi reichte ihm einen braunen Kuchen. Wenig später war das Kind tot. Hier verlieren sich die Spuren vom Schwabenhudi. Noch lange erzählte man sich in Menzingen, die Alte aus dem Schwabenland erscheine am Fenster, wenn eine Frau geboren hat. Aber wirklich gesehen hat sie niemand mehr ...

Die Sage vom Schwaben­hudi beinhaltet alles, was eine typische Überlieferung der katho­lischen Zentralschweiz haben muss: Magisches, Unheimliches, Unerklärliches, bizarre Wendungen, das Motiv der Hexe und des Teufels kommt vor und auch jemand Frommes, Unbescholtenes. Und obschon die Sage vom Schwabenhudi uralt ist, lassen sich in ihr Parallelen zu gesellschaftlichen Fragen des Heute ausmachen. Die Alte spielt die böse Rolle in der Geschichte, sie ist als Schwäbin eine dubiose Fremde in einer heilen Welt und steht gar mit dem Teufel im Bunde – und sie wird für das Un­gemach des rechtschaffenen Schweizer Mädchens verantwortlich gemacht. Fremdenfeindlichkeit ist ein zeitloses Phänomen ... (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut!» gehen wir Details mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach. Frühere Beiträge finden Sie online unter www.zugerzeitung.ch/hingeschaut.