Der verwucherte «Säntisblick»

Brauchtum & Geschichte

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Wo einst wohlsituierte Herrschaften den Rundumblick in die Ferne genossen, guckt man heute nur noch ins Gestrüpp: Ein verwunschenes Baurelikt in einem Wald bei Menzingen ist das ferne Echo einer glanzvollen Ära.

  • Einst bot sich hier ein 360-Grad-Panoramablick. Heute steht der ehemalige Aussichtspavillon vergessen und versteckt mitten im Wald. Bild: Andreas Faessler (Menzingen, 31.1.2024)
    Einst bot sich hier ein 360-Grad-Panoramablick. Heute steht der ehemalige Aussichtspavillon vergessen und versteckt mitten im Wald. Bild: Andreas Faessler (Menzingen, 31.1.2024)

Menzingen – Er ist ein Relikt längst vergangener Zeiten, im Begriffe, von der Natur zurückerobert zu werden. Wer von ihm nicht weiss, würde nie zufällig auf ihn stossen. Doch er erinnert an eine goldene Ära: ein schlanker Pavillon auf einer kegelförmigen Anhöhe im abschüssigen Wäldchen bei Twärfallen oberhalb der Strasse zu Schloss Schwandegg hinter Menzingen. Kaum sichtbar, selbst dann, wenn die Laubbäume keine Blätter tragen. Und zum nahen Schloss Schwandegg gehört dieses kleine Monument denn auch. Eigentlich, denn seine Funktion hat es schon längst verloren.

Wo heute die Piusbruderschaft zurückgezogen residiert und andächtige Ruhe herrscht, war einst lebhafter Betrieb: 1839 hatte der illustre Menzinger Naturheiler Karl Josef Arnold die «Curanstalt Schwandegg» in Gestalt eines Landschlösschens erbauen lassen. Es war die erste Einrichtung seiner Art im Kanton Zug und kam dem jungen, aber schnell wachsenden Bedürfnis der besser situierten Gesellschaft nach, aktiv um die eigene Gesundheit besorgt zu sein.

Ein Kurpark entsteht

Das Geschäft florierte. Arnolds Sohn Alois liess das Kurhaus 1887 erweitern, aufstocken und verschönern. Um die Jahrhundertwende erwarb Johann Hegglin, später Obergerichtspräsident, die Schwandegg und wandelte die nähere Umgebung in einen Kurpark mit mehreren Attraktionen um. Es entstanden unter anderem eine Kegelbahn, ein Teich namens «Vierwaldstättersee» und ein Aussichtspunkt – womit wir wieder bei unserem verwunschenen Pavillon angelangt wären. Zirka 250 Meter Luftlinie vom einstigen Kurhaus entfernt war er über einen Spazierweg erreichbar, eine Steintreppe führte zu ihm hoch auf den wohl künstlich aufgeschütteten Hügel.

«Säntisblick» war der marketingmässig wohlüberlegte Name des Pavillons, soll er doch einst an klaren Tagen den freien Blick bis zum Alpstein ermöglicht haben. Jedenfalls herrschte Rundumsicht, zumal der Hügel und seine Umgebung damals unbewaldet waren.

Ein Abgesang auf die goldene Zeit

Eine historische Fotografie um die Jahrhundertwende zeigt den Panoramapavillon in seiner ursprünglichen Gestalt, die mit dem heutigen Bauwerk weitgehend nur noch in der Form identisch ist: Anleihen nehmend am sogenannten Monopteros – ein offener Rundtempel der Antike –, tragen acht schlanke Säulen ein kreisförmiges Gebälk mit geschindeltem Kuppeldach. Elegante Damen und Herren bevölkern den Pavillon, gönnen sich einen Blick durchs Fernrohr. Im Hintergrund fällt der Blick auf das Dorf Menzingen mit dem ortsbildbestimmenden Institut.

1916 jedoch wich die Mondänität einem von Menzinger Schwestern geführten Erholungsheim- und Kurbetrieb, nachdem die Hilfsgesellschaft Menzingen die Schwandegg übernommen hatte. 1979 wurde der Kurbetrieb eingestellt. Danach diente die Schwandegg während mehrerer Jahre als Erholungs- und Bildungsstätte der Zürcher Sängerknaben, ehe die Liegenschaft 1991 schliesslich in den Besitz der Piusbruderschaft überging.

Der Pavillon «Säntisblick» hat seine Funktion schon lange verloren. Heute mitten im Wald stehend, bietet er keine nennenswerte Aussicht mehr, erst recht nicht im Sommer, wenn der Blick maximal ins dichte Blätterdach der Bäume reicht. Und doch gehört er als Teil der historisch bedeutenden Liegenschaft Schwandegg zu den schützenswerten Objekten.

1986 ist die Kuppel des Pavillons erneuert worden, vermutlich unter Beibehalten der alten Eisenkonstruktion. Das ursprüngliche Schindeldach ist heute aus Blech, und die acht vorigen Rundsäulen sind in neuerer Zeit mit oktogonalen Säulen aus Kunststein ersetzt worden, was dem Pavillon seine frühere Eleganz – oder das, was heute davon noch übrig sein könnte – genommen hat. Auch die Steintreppe, die vom Hügelfuss bis zur Brüstungsmauer geführt hat, ist nicht mehr vorhanden. Lediglich ein paar betonierte Stufen gewährleisten die Erreichbarkeit des Pavillons. Die hölzerne Rundbank im Inneren ist marod und vom Zerfall gezeichnet.

Es ist offensichtlich: Die einstige Hauptattraktion im Kurpark der Schwandegg ist heute maximal noch ein fahler Schatten ihrer selbst, vergessen und aus dem Blickfeld der allgemeinen Wahrnehmung gerückt – in einem dichten Waldstück, wo kein öffentlicher Weg vorbeiführt. Ob man von hier jemals wieder zum Säntis blicken kann? (Text von Andreas Faessler)