Verloren auf der Gefängnisinsel

Film & Multimedia

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Mit ihren Bildern arbeitet Eva Iten die Geschichte einer Gefängnisinsel auf. Und schliesst einen Kreis in ihrem Schaffen.

  • Eva Iten im Selbstportrait. (Bild: Eva Iten)
    Eva Iten im Selbstportrait. (Bild: Eva Iten)

Alosen – Dieser Text ist in der Mai-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln dieser Ausgabe.

Früher dokumentierte Eva Iten die Welt. Heute zeigt sie eine Welt, die es niemals hätte geben dürfen. Das ist die kurze Version. Eva Iten hat den letztjährigen Zuger «Atelier Flex»-Förderpreis bekommen. Ein Reisestipendium in maximaler Höhe von 20 000 Franken.

Die lange Variante von Eva Itens Geschichte beginnt Ende der Sechzigerjahre, als sie von ihrem Vater als kleines Mädchen eine Kamera geschenkt bekam. Der erste Film war schnell verbraucht, neuer Film war zu teuer. Eva Iten knipste trotzdem weiter. Ohne Film, aber mit einem genauen Blick für die Dinge, die im Rechteck ihres Suchers auftauchten. Ein paar Jahre später stand sie per Zufall das erste Mal in einer Dunkelkammer. Der Freund ihrer Primarlehrerin, eine Alt-68erin, war Fotograf. Iten sah einen Ort, der die ganze Welt aussperrt, ausser das Bild, das entsteht. Sie wusste: «Das will ich.»

Während Studienzeiten teilte sich Iten in Luzern ein Atelier mit einem Filmemacher. Ihre ganze WG schien künstlerische Ambitionen zu haben. Sie nicht. In einem Fotoalbum, das heute noch in ihrem Atelier in Morgarten steht, kleben kleine Bilder aus dieser Zeit. Alpaufzüge, geschmückte Kühe, breite Männer in Schwingerhosen. Dazwischen abstrakte Formen, Schattenwürfe und Nahaufnahmen bis zur Unkenntlichkeit. Sie wollte ausprobieren, experimentieren, festhalten, dokumentieren. Warum diese Fotos? Eva Iten scheint die Frage noch heute erst nicht zu verstehen. «Ich musste das einfach machen.»

Fotografieren ist teuer. Sie musste das Atelier irgendwann aufgeben. Doch Eva Iten muss fotografieren. Sie wird nervös, unruhig, unaushaltbar, sagt sie. Ihre Familie ist manchmal froh, wenn sie geht und fotografieren kann. Damit sie wieder ruhig zurückkommt.

Zwischen Kindern und Fotografie

Anfang der Nullerjahre besuchte Iten einen Kurs beim damaligen Chefredakteur Allan Porter des Foto-Fachmagazins «Camera». Porter war damals auf dem Sprung nach Amerika. Dort entstehe gerade etwas, das die Fotografie verändern werde: digitale Bilder. Eva Iten glaubte ihm nicht. Heute, in ihrem Atelier in Morgarten,
umgeben von wandfüllenden Digitalfotografien, muss sie leise lachen, wenn sie daran denkt.

Eva Iten wurde Mutter. Plötzlich war etwas in ihr Leben getreten, das wichtiger war als alles andere. Mit kleinen Kindern konnte Iten nicht mehr einfach so aus dem Haus. Sie blieb zu Hause, tagelang, nächtelang, tagelang. Sie wurde unruhig, nervös, sie musste etwas tun. Ihr c Ehemann brachte ihr eine Digitalkamera mit. Und Eva Iten fotografierte, weil sie musste. Ihre Kinder. Freundinnen, die zu Besuch kamen. Deren Kinder. Diese Zeit war noch in anderer Hinsicht ein Wendepunkt. Die Bilder reichten nicht mehr. Sie suchte nach dem Ausdruck, der dem entsprach, was sie sah, wenn sie ihre schlafenden Kinder anschaute.

Vexierbilder und Doppelbelichtungen

Die digitale Art zu fotografieren glich einer Befreiung. Wo man früher durch den Film begrenzt wurde, sind Tausende Bilder möglich. Eva Iten musste sich nicht mehr mit der besten Version des Bildes auf der Filmrolle zufriedengeben. Sie hatte tausend Versuche für das perfekte Bild. Auch die zeitfressende Dunkelkammer fiel weg. Wenn man Kinder hat, kann man nicht mehr einfach drei Stunden die Welt aussperren. Eine halbe Stunde vor den Laptop zu sitzen, dazu
findet man Zeit.

Eva Iten fing an, die Möglichkeiten der Digitalfotografie zu nutzen. Sie legte Bilder übereinander, wieder und wieder, bis sie zu Vexierbildern ihrer selbst werden. Ihre schlafenden Kinder belichtet sie mit Fotografien weisser zerknüllter Laken doppelt. Eine zarte Art, mehr zu sagen, als auf dem Bild zu erkennen ist. Eine intime Stimmung, die über den kalten Blick des Dokumentarischen hinausgehen.

Vor ein paar Jahren landete Eva Iten auf der kroatischen Insel Goli Otok, einer ehemaligen Gefangeneninsel des kommunistischen Tito- Regimes. Es war Zufall, eine Freundin habe ihr erzählt, dort gäbe es wilde Hirsche.

Die Alten verprügeln die Neuen

Unter dem Diktator Tito wurden auf dieser Insel Menschen weggesperrt, die der Regierung suspekt waren. Von 1949 bis 1956 waren hier rund 16 000 Gefangene. Viele starben, die, welche zurückkamen, redeten nicht. Aus der berechtigten Angst, dass sie mitsamt ihrer ganzen Familie auf die Insel zurückmüssten. Die Grenze zwischen Gut und Böse verwischten die Wärter, indem sie die neuen Gefangenen der Insel von den alten bei Eintritt durchprügeln liessen. Keiner war unschuldig. Die wahren Wärter waren die Mitgefangenen. Heute sind davon Ruinen geblieben und Gruselfotos der Gefangeneninsel für Touristen. Bald soll alles verschwinden und stattdessen ein Ferienressort entstehen. Die Gefangenen von Goli Otok, die selber nie redeten, sollen endgültig vergessen werden. Eva Iten war von der Geschichte fasziniert.

Mithilfe des Stipendiums wollte sie die Überreste des Lagers dokumentieren. Wenn das Ferienressort kommt, hat das Vergessen gewonnen. Mit 55 Jahren hat Eva Iten das «Atelier Flex»- Reisestipendium des Kanton Zugs bekommen. Es habe sie unglaublich gefreut.

Vergessen oder nicht?

Aber sie ist nicht die erste Künstlerin, die sich um die Vergangenheit der Insel kümmert. Eine ganze Gruppe von kroatischen Kreativen will die Geschichte aufarbeiten. Eva Iten sitzt in ihrem Atelier und blättert langsam in einer Dokumentation über die Arbeiten dieser Künstler. Sie stockt. «Sie haben die Frauen vergessen», sagt sie. Getrennt von den Männern lebten auf der anderen Seite der Insel wohl etwa 900 Frauen als Gefangene. Ein kroatischer Freund von Iten sei förmlich an die Decke gegangen, als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählte. Man solle das Ganze nun einfach vergessen, der Krieg sei endlich vorbei, nun soll man nach vorne schauen. Eva Iten versteht die Reaktion. Aber ganz so leicht will sie es dem Vergessen trotzdem nicht machen. «Ich hole die Frauen auf die Insel zurück», teilte sie dem Amt für Kultur in Zug mit. Und bekam die Unterstützung.

Irritierende Wahrheit

Wie dokumentiert man nun, was laut den Überlebenden niemals war und eigentlich schnell vergessen werden will? Bei Eva Itens neusten Werken zu den Frauen auf Goli Otok verschmelzen zwei Wirklichkeiten miteinander, die zusammen eine irritierende Wahrheit über fast vergessene Zeiten erzählen. In den Bildern der Ruinen auf der Gefangeneninsel Titos tauchen bei Iten Frauen und Kinder auf. Ihre Frauen und Kinder, die sie fotografierte, als sie zu Hause in Morgarten war und nicht rauskonnte. Bilder von Familien, aufgenommen in intimsten Situationen voller Geborgenheit und Glück. Versetzt nach Goli Otok in die Kulisse des krassen Gegenteils, ist die Spannung auf unaufgeregte Weise unaushaltbar. Es ist diese kalte Boshaftigkeit
der ehemaligen Gefangeneninsel, gekonnt gebrochen. Mit Mitteln, die Eva Iten schon immer zur Verfügung hatte und die sie im Laufe der Jahre zur Perfektion brachte: ein exakter Blick und die Suche nach dem künstlerischen Ausdruck, der, wenn nötig, auch über das Dokumentarische hinausgeht.

(Autor: Lionel Hausheer)