Sie ergründet Verflechtungen einer Familie

Literatur & Gesellschaft

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Die Luzerner Autorin Theres Roth-Hunkeler lässt eine jung gebliebene Frau auf ihren viel älteren Bruder los. Mit unerwartetem Resultat.

  • Die Luzernerin Theres Roth-Hunkeler, die heute in Baar lebt, geht sehr nahe an ihre Figuren und deren Beziehungen heran. (Bild Ayse Yavas)
    Die Luzernerin Theres Roth-Hunkeler, die heute in Baar lebt, geht sehr nahe an ihre Figuren und deren Beziehungen heran. (Bild Ayse Yavas)

Baar – Familien und ihre oft schwierigen Verwurzelungen und Verflechtungen – das ist offenbar das bevorzugte Thema von Theres Roth-Hunkeler. Schon im letzten Roman «Allein oder mit anderen» (2019) befasste sich die Hauptfigur intensiv mit ihren Angehörigen und den Beziehungen untereinander.

Im neuen Roman ist es Lisa, Anfang 60 und unternehmungslustig, die ihre Familie und deren Geschichte besser verstehen möchte. Zwar will sie mit einer Freundin nach Kanada, dafür hat sie sogar ihren Hotel-Kaderjob aufgegeben. Doch zuerst hat sie ihren 19 Jahre älteren Halbbruder Ernst, genannt «Stern», ins Tessin eingeladen. Auch, um ihn vieles zu fragen – über ihn selber und – eben – die ganze Familie. So beschreibt die Autorin, was Lisa vorhat: «Ich nehme meinen Bruder, drehe und wende ihn und betrachte ihn von allen Seiten. Ich ... möchte diesem oft galligen Menschen näherkommen, bevor er für immer verschwindet und mit ihm seine ganze Geschichte, die in Teilen auch die meine ist.»

Doch «Stern» erweist sich als harter Brocken. Er ist zittrig, etwas verwahrlost, mag nicht reden, kaum etwas unternehmen, hadert mit dem Alter und den Begleiterscheinungen. Will uns die Autorin da eine eher deprimierende Sicht aufs Alter vermitteln? Wir fragen direkt.

Theres Roth-Hunkeler, ist es primär «Sterns» Charakter, der ihn das Alter als so schwer empfinden lässt?

Theres Roth-Hunkeler: Er gehört zum Menschenschlag, der täglich bis zum Umfallen gearbeitet hat, für den Freizeit keine Bedeutung hat. Sein Lebenssinn war die Arbeit. Jetzt weiss er nicht, was er mit seiner Zeit anfangen soll. Er hat keine Hobbys und nie gelernt, sich selber zu beschäftigen. Darum fragt er sich: Was soll das alles noch?

Sie sind 67. Was bedeutet Älterwerden für Sie selber?

Einen grossen leeren Raum, den ich füllen kann mit Dingen, die ich immer tun wollte: Lesen, Schreiben, Literaturvermittlung, lange Aufenthalte in der Natur, Zeit zu haben für unsere grosse Patchworkfamilie, für Geschwister, Freundinnen und Freunde. Jedoch: Was das hohe Alter dereinst bringen wird, bleibt ungewiss. Sicher ist nur der Ausgang und dass die Gewichte sich verschieben. Älterwerden könnte auch bedeuten, über solches nachdenken und zu sprechen, ohne zu jammern und ohne die Heiterkeit zu verlieren.

Doch zurück zum Roman: Derweil «Stern» sich erst gegen Ende etwas öffnen wird, kommen Antworten aus anderen Quellen – etwa von «Sterns» Frau und von seiner Tochter, die ebenfalls im Tessin aufkreuzen. Vor allem aber lernt sie gerade dank des hinfälligen Bruders einen faszinierenden Mann kennen und verliebt sich total unerwartet. Und obwohl man mit dem Älterwerden auch in diesen Dingen die Leichtigkeit etwas verloren haben mag, finden die zwei zueinander.

Geht es auch darum im Roman? Dass letztlich die Zukunft doch wichtiger ist als die Vergangenheit? Wir fragen nochmals die Autorin:

Lisa erfährt vom Bruder letztlich weniger als erhofft. Dafür findet sie ganz anderes. Liegt darin eine Quintessenz des Buches? Dass es zwar wichtig ist, sich mit der eigenen Familie zu befassen? Dass es aber Grenzen gibt, was möglich und sinn­voll ist? Und dass der Blick nach vorne überwiegen sollte?

Theres Roth-Hunkeler: Ich hoffe, dass Leserinnen und Leser ihre je eigene Quintessenz finden. Tatsächlich gelingt Lisas Vorhaben nur halb, dafür stösst ihr eine neue Liebe zu. Das hat mir beim Schreiben unglaublich Freude gemacht, diese Überraschung. Auch ich als Autorin musste mich mit dieser männlichen Figur erst anfreunden. So gilt für Lisa mein Lieblingszitat von H. C. Artmann: «Alles, was man sich vornimmt, wird anders, als man sich’s erhofft….»

Realer Verkehrsunfall als Ausgangspunkt

Der Roman basiert auf einer realen tragischen Geschichte, zu der eine lange Zeit gesperrte Akte existiert, die Theres Roth-Hunkeler aufgearbeitet hat. Bei einem Verkehrsunfall in den 1930er-Jahren kommen eine junge Frau und ihr Baby zu Tode: Dieses Ereignis sowie seine familiären Folgen werden im Text immer wieder kurz eingestreut und geben auch Einblicke in eine Zeit, die aus heutiger hart und karg erscheinen mag.

Was schon im letzten Roman gelang, ist im neuen womöglich noch stärker: Theres Roth-Hunkeler geht sehr nahe an ihre Figuren heran, sei es in ungewöhnlichen oder auch alltäglichen Begebenheiten. Ohne plumpe Psychologisierungen zeigt sie Menschen und ihre Verbindungen untereinander. Unter diesen sind die familiären natürlich die wichtigsten. Und zugleich die vielschichtigsten. (Arno Renggli)

Theres Roth-Hunkeler:
Geisterfahrten. Edition Bücherlese, 280 S., Fr. 32.–