Keine Angst vor Fremdsprachen

Literatur & Gesellschaft

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Ein klavierspielender Veterinär, ein Wald voller Kräne und furchtlose Kristall­sucher. Wenn ein Literatur­festival die viersprachige Schweiz nach Zug holt, spielt sich Mysteriöses ab.

  • Thomas Heimgartner und Armin Oswald bei ihrem Lieblingsthema: Literatur. Bild: Philippe Hubler
    Thomas Heimgartner und Armin Oswald bei ihrem Lieblingsthema: Literatur. Bild: Philippe Hubler

Zug (Kanton) – Dieser Artikel ist in der April-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

«Schon wieder geht der Revisor um. Die Akten liegen bereit, wir lassen ihn seine Arbeit tun, ungestört. Erst während der kurzen Kaffee­pause, angesprochen auf Gogols ‹Revisor›, hellt sich das schmale Gesicht des Gastes sichtlich auf, und er gesteht uns freimütig, dass er, weit über seine täglichen Abrechnungen und Buchhaltungen hinaus, ein passionierter Leser sei.» (Klaus Merz, firma, 2019)

Ein passionierter Leser ist auch Armin Oswald. Kaffee hat er aber keinen. Nicht, dass er ihm ausgerechnet heute ausgegangen wäre. Er hat schlicht keinen. «Wenn ich bei mir zu Hause eine Kaffeemaschine hätte, dann würde ich mich nicht mehr in ein Café setzen. Dabei mache ich das doch so gerne.» Oswald lächelt entschuldigend, als koppelten sich seine Gastgeberqualitäten einzig an die Existenz gemahlener Bohnen in seinem Küchenschrank.
Thomas Heimgartner – kein Revisor, dafür Oswalds Gast – winkt ab. Leitungswasser tut es allemal. Wenn es um Literatur geht, hellen sich die Gesichter der beiden ohnehin sofort auf. Oswald und Heimgartner sind Vorstandsmitglieder der vor über 100 Jahren gegründeten Literarischen Gesellschaft Zug, eines Vereins, der sich der Pflege literarischer Interessen verschieben hat.

Literatur ist überall
Dies etwa mit der Festivalreihe «Literatur kompakt», deren fünfte Ausgabe nun unter der Federführung von Armin Oswald entsteht. Unter dem Motto «CH – schreiben, écrire, scrivere, scriver» wird nach Zug geladen, um das heimische Schrifttum ebenso zu feiern wie darzubieten. «Wenn von Schweizer Literatur die Rede ist, meint man bei uns häufig nur die deutschsprachige Schweizer Literatur», bemerkt Vereinspräsident Heimgartner. «Da möchten wir ein bisschen Gegensteuer geben.»

«Lorsqu’il contempla la ville, de cette colline qu’il apprendra à nommer belvédère, cette ville de Z longtemps oubliée au point de figurer en queue d’alphabet, entourée à présent d’une forêt de grues étincelantes et prometteuses, Modeste n’eut aucun doute qu’il entrait au paradis.» (Marie-Jeanne Urech, L’ordonnance respectueuse du vide, 2015)

Eingeladen wurde etwa die Lausannerin Marie-Jeanne Urech. Woher genau die Einladung stammt, ist allerdings etwas mysteriös: «J’ai reçu une aimable invitation», sagt sie. «Qui l’a soufflée? Sans doute Eole ..» Keine Angst, wir fragen nach: Eole? Der griechische Gott des Windes. Er hält es wie die Literatur: Auch sie kenne keine Sprachgrenzen, sagt Urech. Klaus Merz, dessen Zeilen den Einstieg in den vorliegenden Artikel ebneten, sieht das ähnlich, wenn er meint: «Es gibt gute und schlechte Literatur. Hier wie dort.»

Keine Angst vor Fremdsprachen
Alle vier Landessprachen sind am Zuger Festival vertreten. Total zwölf Autorinnen und Autoren, je drei aus jeder Sprachregion, kommen in die Stadt am Ende des Alphabets, wie Urech über Zug schreibt, und lesen umgeben von einem Wald funkelnder Baukräne aus ihren in der jeweiligen Muttersprache verfassten Werken.
Ein richtiges Schweizer Literaturfestival involviert alle Sprachgruppen, ist Thomas Heimgartner überzeugt. «Die Mehrsprachigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Identität der Schweiz», sagt er. Die Tessiner Autorin Claudia Quadri formuliert es so: «Eine schweizerische Literatur gibt es nicht. Es gibt mehrere in der Schweiz entstandene.»
Armin Oswald betont derweil, dass man sich ruhig auf das Wagnis einlassen dürfe, eine Lesung zu besuchen, bei der man vielleicht nicht alles versteht. Die Texte werden sowieso zunächst auf Deutsch und erst danach in der Originalsprache vorgelesen. «Verloren fühlen muss sich also niemand.»

Im Austausch liegt der Kern
Die Diskussionsrunden versprächen überdies einige anregende Debatten. Etwa die Frage, ob regionale Unterschiede in Schreibstil und Inhalt existieren. «Das ist ein spannender Punkt», sagt Oswald. «Bei der Autorenauswahl ist mir aufgefallen, dass es in der italienischsprachigen Schweiz kaum Romanciers gibt. Auf diese Diskussion bin ich sehr gespannt.»

«Il veterinario c’era rimasto male, suonare il pianoforte era il suo sogno nel cassetto.
- Lo lasci dov’è!
- Prego?
- Nel cassetto, come dice lei. Il suo sogno di suonare il pianoforte.
- Ma io non sono uno che ambisce a fare concerti, capisce? E solo per mio diletto personale » (Claudia Quadri, Suona, Nora Blume, 2013)

Auch Armin Oswald hegt einen Herzenswunsch, wenn er ans «Literatur kompakt»-Festival denkt: «Das Ziel ist es, dass die Autoren nicht einfach hierherkommen, lesen und am selben Abend wieder verschwinden. Sie sollen miteinander und mit den Besuchern ins Gespräch kommen. Darum geht es im Kern.»
Das Festival, ergänzt Thomas Heimgartner, solle immer auch zu Entdeckungen einladen und neue Sichtweisen eröffnen. «Eine weitere spannende Frage wird sein, ob es so etwas wie eine Schweizer Literaturszene gibt, in der man sich über die Sprachgrenzen hinweg miteinander austauscht», konstatiert er und fügt an: «Ich glaube, das passiert nur punktuell.»

«Jeu crei ch’ils vers cavacristallas, igl ei buca schi biars, creian, sco quei che Malaparte raquenta dils Toscans, buca vid la mort: ‹Il patratg vid la mort fa els ni leds ni trests. Els van en l’auter mund, sco sch’ei massen da l’autra vart, en in’autra combra. E cu els van, fan els adina stem, da trer neu igl esch davos els.›» (Leo Tuor, Cavrein, 2014)

Für Ideen erreichbar sein
Dabei gäbe es durchaus Erhellendes zu entdecken. Etwa die vielfältigen Körperhaltungen, in denen Schweizer Autoren ihre Werke erschaffen. Im Gegensatz zu Victor Hugo, erzählt Marie-Jeanne Urech, schreibe sie sitzend, «car 
j’aime poser mon menton sur ma main qui est elle-même appuyée sur la table.» Geradezu akrobatisch wird es bei Klaus Merz: «Ich schreibe am liebsten im Handstand, dann bleiben die Füsse zum Strampeln frei.» Und Claudia Quadri meint: «Um für Ideen erreichbar zu sein, sind alle Positionen gut.»
Wirft man einen Blick auf die Neuerscheinungen hiesiger Literaten, dann scheint es freilich recht gut zu funktionieren mit der Ideen-Erreichbarkeit. Blickt man hingegen auf die Verkaufszahlen, zeichnet sich ein anderes Bild. «Wenn man die nackten Zahlen betrachtet, dann ist es schon einigermassen dramatisch», erzählt Thomas Heimgartner.
Dennoch bleibt er gelassen, wenn er über die Zukunft der Schreibkunst sinniert. Nach wie vor gebe es viele Leute, die sich die Literatur aus ihrem Leben nicht wegdenken können. «Natürlich braucht der Mensch die Literatur per se nicht. Aber sie tut ihm gut. Und wenn er sich mal an sie gewöhnt hat, dann wird er nicht darauf verzichten wollen.»

(Autor Philipp Bucher)