Titan der europäischen Kunstgeschichte

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Zuger Prominente, Teil 3: Der Belgier Henry van de Velde (1863–1957) war ein international sehr erfolgreicher Designer und Architekt. Seine letzten Jahre verbrachte er in Oberägeri.

  • Am Schreibtisch seines Wohnhauses in Oberägeri: Henry van de Velde verfasst seine Memoiren. (Bild: Sembach-Schulte, 1992)
    Am Schreibtisch seines Wohnhauses in Oberägeri: Henry van de Velde verfasst seine Memoiren. (Bild: Sembach-Schulte, 1992)
  • Henry van de Velde feiert seinen 90. Geburtstag: 1953 im Restaurant Aklin in Zug. (Bild: Sembach-Schulte 1992)
    Henry van de Velde feiert seinen 90. Geburtstag: 1953 im Restaurant Aklin in Zug. (Bild: Sembach-Schulte 1992)
  • Alfred Roths erster Pavillonbau am Hang in Oberägeri: das Haus «Im Holderbach», in dem van de Velde lebte. (Bild: Sembach-Schulte 1992)
    Alfred Roths erster Pavillonbau am Hang in Oberägeri: das Haus «Im Holderbach», in dem van de Velde lebte. (Bild: Sembach-Schulte 1992)
  • 1948 in Zürich: Henry van de Velde im weissen Anzug, mit Max Bill, links, und dem finnischen Architekten Alvar Aalto, rechts. (Bild: Sembach-Schulte 1992)
    1948 in Zürich: Henry van de Velde im weissen Anzug, mit Max Bill, links, und dem finnischen Architekten Alvar Aalto, rechts. (Bild: Sembach-Schulte 1992)

Oberägeri – Nach zwei Prominenten, die beide an der Zuger Artherstrasse wohnten, kommen wir jetzt zu einer Berühmtheit, die im Ägerital gelebt hat: zu Henry van de Velde.

Als dieser im Jahre 1947 entschied, sich in Oberägeri niederzulassen, war van de Velde bereits 84 Jahre alt und ein Titan der europäischen Kunstgeschichte. Er war einer der vielseitigsten Künstler des Jugendstils gewesen, hatte Silber, Keramik und Industrieprodukte gestaltet, hatte Innenräume, Möbel und Häuser designt, er kannte Kulturgrössen wie Rainer Maria Rilke, Bernard Shaw oder Toulouse-Lautrec persönlich. Kurz und gut: Van de Velde hatte die angewandte Kunst fundamental erneuert, hatte sich selber zu einer Grösse des Kunstbetriebs entwickelt und in Weimar die erste Kunstgewerbeschule der Welt gegründet – aus der später das bekannte Bauhaus wurde.

Ins Exil in die Schweiz

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde van de Velde in Belgien angefeindet, weil er während der kriegsbedingten Besetzung mit Nazideutschland kollaboriert hatte. Deshalb riet ihm seine Schweizer Freundin Maja Sacher-Hoffmann, die Chemie-Erbin, Kunstmäzenin und Gattin des Dirigenten Paul Sacher, in der Schweiz zu wohnen. Zuerst kam van de Velde für sieben Monate in der Pension Lohmatt in Oberägeri unter. Dann stellte die Kinderpsychiaterin Marie Meierhofer dem Künstler ihr Ferienhaus in Oberägeri zur Verfügung: Dabei handelte es sich um das Haus «Im Holderbach», erbaut von Architekt Alfred Roth, rund 150 Meter von der Lohmatt entfernt. Van de Velde, der dort mit Tochter Nele und Hund Chippa unterkam (seine Frau Maria war bereits 1943 verstorben), nannte es «Le Bungalow». Oberägeri gefiel dem Altmeister sehr, er unternahm gerne Spaziergänge in der Gegend: «Meine Tochter Nele und ich genossen das Entzücken jeden Tag, jede Stunde, zu jeder Jahreszeit, bei gutem wie bei schlechtem Wetter.»

Eigentlich wollte van de Velde jetzt in der Ruhe des Ägeritals seine Memoiren verfassen. Dazu setzte er sich täglich für sieben bis acht Stunden vor das grosse Panoramafenster des kleinen Hauses, überblickte den Ägerisee und liess seine Gedanken und Erinnerungen schweifen. Er hatte als Gestalter und Verfechter der klaren Vernunft klare Vorstellungen: Es sollten 300 bis 350 Seiten werden, in Französisch und Englisch, mit «Fotos, die mich und vielleicht auch meine Freunde zeigen». Doch die Arbeit setzte ihm zu: «Nach drei Jahren fast übermenschlicher Anstrengung sah ich, wie sich Blätter meiner Memoiren anhäuften und die Ordner sich füllten.» So entstanden nur vier Manuskriptteile, die insgesamt 1200 Seiten umfassten, das sogenannte grand manuscrit. Aber das war keine zusammenhängende Autobiografie, sondern ein Stückwerk; ein lesbares Buch fertigten Dritte erst posthum dank fleissiger Redaktionsarbeit.

Die «Schweizergarde» zu Besuch

Denn van de Velde war zu dieser Zeit in Oberägeri schon ein älterer Herr und kam fast nicht zum Schreiben, weil ständig Gäste aus der ganzen Welt zu ihm kamen. Führende Leute der Schweizer Kunstszene wollten endlich einmal dem grossen Mann begegnen, der bereits so viel geleistet hatte: Hans Curjel (Dirigent, Regisseur, Theaterdirektor), Sigfried Giedion (Architekturhistoriker), Hans Finsler (Fotograf), Max Bill (Architekt, Künstler), Carola Giedeon (Kunsthistorikerin), Binia Bill (Fotografin, Musikerin), Silvia und Werner Max Moser (Architekt, Professor), Maja Sacher (Kunstmäzenin) sowie Johannes Itten (Maler, Professor) gaben sich am Holderbach in Oberägeri die Klinke in die Hand. Van de Velde nannte die Besucherinnen und Besucher scherzhaft die «Schweizergarde», in einem Brief 1949 beschwerte er sich über «Gäste, Gäste und es kommen noch immer». Es kamen auch internationale Architekturstars wie Richard Neutra oder Alvar Aalto nach Oberägeri, um van de Velde zu besuchen.

Zwei der «Schweizergarde» entwickelten sich zu engen Freunden des grossen Meisters: Max Bill und Alfred Roth. Max Bill, selber schon in der internationalen Kunstszene arriviert, war ein Bewunderer von van de Velde und wurde zu einem Vertrauten. Und Architekt Roth wurde quasi zum Schweizer Berater van de Veldes in vielerlei Hinsicht, chauffierte ihn auch mal durch die halbe Schweiz oder organisierte ihm das Fest zu seinem 90. Geburtstag. Dazu mietete er das Restaurant Aklin in Zug, wo 40 Gäste aus aller Welt zusammenfanden, van de Veldes Nichte ebenso wie der Winterthurer Kunstmäzen Oskar Reinhart, der Stuttgarter Werkbündler Hans Hildebrandt ebenso wie der italienische Architekt Ernesto Rogers aus Mailand. Elisabeth von Belgien, die Grossmutter des regierenden Königs von Belgien, schickte ein umfangreiches Glückwunschtelegramm.

Seine Kontakte im Ägerital

Van de Velde hatte aber auch mit Leuten aus dem Ägerital Kontakt: Ursula Henggeler, Tochter des «Waldheim»-Hoteliers, wirkte als Sekretärin und tippte van de Veldes Notizen ins Reine. Ursulas Bruder Jürg Henggeler, der ab 1953 die Kunstgewerbeschule in Luzern besuchte, zeigte dem Titan der Kunstgeschichte seine Skizzen und Zeichnungen, der meinte: «Da sind schon ganz schöne Sachen drin.»

Zehn Jahre nach dem Umzug an den Holderbach in Oberägeri stand wieder eine Züglete an, weil die Besitzerin des Bungalows Eigenbedarf anmeldete. Van de Veldes Vertrauter Alfred Roth baute ein neues Bungalow-Holzhaus, hinter der ehemaligen Pension Lohmatt, 300 Meter westlich und in Sichtweite des bisherigen Wohnsitzes. Finanziert hatte dies die «Gesellschaft Hausbau van de Velde», bestehend aus Architekt Alfred Roth (der auf sein Honorar verzichtete), Maja Sacher aus Basel, Verena Hafter-Reinhardt aus Winterthur und Baronin Hanoi Lambert aus Brüssel. Im Alter von 94 Jahren und von einem Gehleiden behindert, zog van de Velde dort ein. Wenige Monate nach dem Umzug starb van de Velde allerdings. (Text von Michael van Orsouw)


Hinweis

Dr. Michael van Orsouw, Historiker und Schriftsteller, beleuchtet Prominente in Zug. In Folge 4 geht es um einen Attentäter, der nach dem Zuger Aufenthalt in Wien für Furore sorgte. www.geschichte-texte.ch