Aufklärergeist trifft auf verbohrten Adel
Literatur & Gesellschaft
Was hatten sich Wilhelm von Humboldt und Beat Fidel von Zurlauben zu sagen, als sie sich im Jahre 1789 trafen? Heinz Greter fasst die historisch belegte Begegnung in eine Erzählung. Und zeigt auf, wie zeitlos gewisse Kontroversen des 18. Jahrhunderts sind
Zug – «Er hat gewiss mancherlei Kenntnisse, ist aber nicht interessant.» Ganz schön kecke Worte, wenn sie von einem 22-jährigen Jungspund kommen, der sich soeben mit einem greisen Aristokraten mit viel Lebenserfahrung unterhalten hat. Das Zitat ist das wenig schmeichelhafte Urteil über eine ganz besondere Begegnung im Jahre 1789. Der junge Wilhelm von Humboldt – als bedeutender Gelehrter, preussischer Staatsmann und Gründer der Berliner Universität in die Geschichte eingegangen – besucht auf seiner Schweiz-Reise den 69-jährigen Baron Beat Fidel Zurlauben in dessen «Château» in Zug.
Es prallen sprichwörtlich zwei Welten, zwei Epochen aufeinander: Humboldt, ein hochgebildeter, aufgeklärter, progressiver Geist – Zurlauben, ein angesehener zwar, aber konservativer, reaktionärer, verbohrter Anhänger des Ancien Régime mit ausgeprägtem Adelsdünkel. Nicht nur die entgegengesetzten Gesinnungen der beiden macht die Begegnung so delikat, sondern auch die politischen Verhältnisse in Europa. Die Französische Revolution nimmt Fahrt auf – Humboldt war kurz nach dem Sturm auf die Bastille noch in Paris gewesen und hält die Ideen des Umbruchs hoch, dem edlen Zurlauben sind sie «naturgemäss» ein Greuel.
Historische Erzählung auf Fakten basierend
So also würdigt Humboldt seine Begegnung mit Zurlauben mit einem vernichtenden Fazit – die Eingangs zitierten Worte sind Humboldts Tagebuch zu entnehmen. Sie sind Beleg, dass dieses Aufeinandertreffen tatsächlich stattgefunden hat. Ausgehend von dieser knappen Notiz Humboldts hat sich der Zuger Historiker und Schriftsteller Heinz Greter an ein herausforderndes Buchprojekt gemacht: «Herr von Humboldt schockiert Herrn von Zurlauben» ist eine historische Erzählung, welche ausgehend von Belegbarem das Aufeinandertreffen dieser illustren Persönlichkeiten wiedergibt.
In der Zuger Anthologie ist Heinz Greter auf Wilhelm von Humboldt und dessen Reise in die Schweiz gestossen. So spinnt der Autor, welcher übrigens in denselben Mauern wohnt wie einst Baron von Zurlauben, die überlieferten Fakten im Spiegel vom Damals zu einer Erzählung, in der er in die Gedankenwelt der beiden Hauptprotagonisten schaut. Dies in zwei Erzählsträngen, welche schliesslich zusammengeführt werden, wenn Humboldt in Zug persönlich auf Zurlauben trifft – und diesen durch seine Aussagen und Ansichten gelinde gesagt in grosses Erstaunen versetzt.
Verklärte Sicht auf den Adelsmann
Durch Greters Auseinandersetzung mit den beiden Figuren haben sich ihm deren Charaktere so weit erschlossen, dass der fiktive Teil der Erzählung so authentisch und schlüssig wird, dass man denkt: Ja, genau so kann sich die Geschichte abgespielt haben. Das Gespräch zwischen Humboldt und Zurlauben «rekonstruiert» Greter anhand der Aufzeichnungen. «So erzählt Humboldt dem Herrn Zurlauben, was er in Paris erlebt hat», gibt Greter Einblick in seine Erzählung. «Er berichtet ihm von den gesellschaftlichen Verhältnissen im revolutionierenden Frankreich und wie sehr die Schweizer Söldner verhasst sind.» Dabei war doch gerade das Söldnerwesen die Grundlage für die Pension von Schweizer Aristokraten wie Zurlauben. «Dieser muss von mehreren Seiten beleuchtet werden, um sein Wesen und Denken zu begreifen», meint Heinz Greter. «Die Zuger hatten eine etwas verklärte Sicht auf ihn.» Gewiss war er nicht zu Unrecht angesehen, war er doch äusserst bibliophil und ist seiner ausgeprägten Sammelleidenschaft der enorme inhaltliche Umfang der «Zurlaubiana» zu verdanken. «De facto war der Mann aber nicht so gebildet, wie man denken möchte. Er häufte zwar mit Hingabe Bücher und Schriften an, las sie aber kaum. Auch war er weitgehend unfähig für politische Urteile und historische Analysen.»
Und jetzt ist da dieser junge Gelehrte aus Berlin im Anmarsch, der in Zürich auf Leonhard Meister trifft, einen aufklärerisch gesinnten Publizisten, der Humboldt ermuntert, jenen Zurlauben in Zug aufzusuchen. Und in Kappel begegnet der junge Mann dem dortigen Pfarrer. Auch dieser erzählt ihm vom eigensinnigen Adligen in Zug. So schildert Heinz Greter Humboldts Stationen auf dem Weg nach Zug und wechselt zwischendurch den Schauplatz in den Salon Zurlaubens, wo dieser sitzt und über sich und sein Leben sinniert.
Symbolhaft für zeitlose Fragestellungen
«Am Kanton Zug ist ein Stück Weltgeschichte vorbeigeschlichen», meint Verleger Bernd Zocher an der Buchvernissage in der Bibliothek Zug am Mittwochabend. «Heinz Greter fasst die Auseinandersetzung dieses ‹jungen Wilden› mit dem adligen Herrn gekonnt zu einer Erzählung zusammen.» Die Exzerpte, welche der Autor daraufhin vorliest, zeugen von seinen eingängigen Recherchen, beinhalten viel Wortwitz, was das interessierte Publikum wiederholt schmunzeln lässt.
Heinz Greter zeichnet ein ausführliches Bild dieses hochrangigen Sonderlings, der in seinem Privatleben mehrmals gescheitert ist. So gibt Greter dem Leser einerseits auf unterhaltsame Weise eine Fülle an Geschichtswissen mit. Andererseits aber – und das ist das Brisante an diesem Werk – steht die Begegnung dieser beiden grundverschiedenen Menschen symbolhaft für zeitlose und aktuelle Fragestellungen, unter anderem in Bezug auf die Rechte der Menschen, auf die kontroverse Betrachtung unterschiedlicher Lebensphilosophien oder politischen Auffassungen. Heinz Greter transportiert die Grundgedanken der Aufklärung ins Heute und gibt mit einer überaus gehaltvollen Erzählung wertvolle Anstösse zur Reflexion. (Andreas Faessler)
Hinweis
Heinz Greter, «Herr von Humboldt schockiert Herrn von Zurlauben», gebunden, 144 Seiten, Elster Verlag, Fr. 24.–.