«Ich rettete mich in die Schweiz»

Literatur & Gesellschaft

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Zweimal wäre er fast gestorben, nun spaziert Thomas Hürlimann vor seinem 70. Geburtstag in einem Sammelband durch sein Leben.

  • In seiner Heimat- und Zufluchtsregion am Zugersee: Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann. (Bild Sandra Ardizzone)
    In seiner Heimat- und Zufluchtsregion am Zugersee: Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann. (Bild Sandra Ardizzone)

Zug – Als «Schwere mit Schwung» hat Martin Walser das Schreiben von Thomas Hürlimann bezeichnet. Das trifft es gut, und nach der Lektüre von «Abendspaziergang mit dem Kater» stimmt man nochmals zu. Denn ja, ganz ohne Zynismus, ohne jegliche Frivolität gesagt: Thomas Hürlimann ist einer der Meister darin, das Schwerste im Leben erzählerisch beschwingt und mit einem zartbitteren Witz in Sprache erblühen zu lassen.

Wie er seine Odyssee mit Prostatakrebs, Harnröhrenverschlüssen und unzähligen Notoperationen mit einer Sternebewertung für die jeweiligen Spitä­ler wie bei einem Gourmet-, ­Hotel- oder Weinführer garniert, hat den lakonischen, makabren Witz einer Schelmengeschichte. Er sei nun eine Kaulquappe, schreibt er. Da siegt die Kunst und der Humor über die Versehrung des Lebens. Man realisiert auch: Hier erlebt und beschreibt jemand mit glasklarem Bewusstsein eine Wiederauferstehung an dem eigenen Leib. Als Intellektueller erkennt und bedauert er zugleich einen fundamentalen Mentalitätswandel: Der eigenartige Wunsch nach Unsterblichkeit habe sich von dem Religiösen in das Medizinische verlegt. Lazarus, der von Jesus vom Tod Erweckte, müsste zu dem Heiligen der Moderne erklärt werden, spottet er. In der Schweiz wimmle es deshalb von Senioren, die mit implantierten Gebissen und implantierten Defibrillatoren durch Parkanlagen joggen. Aber selbstironisch fügt er an, er selbst habe sich in die Hände der Hochtechnologiemedizin gelegt. Das Tragische und das Komische legt Hürlimann in seinen Texten nahe zueinander.

Wiederauferstehung erlebt er nicht zum ersten Mal. Bei seinem beinahe tödlichen Selbstunfall mit 1,2 Promille wird er durch eine wunderähnliche Erscheinung gerettet: Auf das ermattete Klingeln des schon halb Verbluteten in der Unfallnacht sei nur ein Baby wach geworden, dessen Mutter mit dem Säugling an der Brust durch das Fenster den Verunfallten entdeckt und die Ambulanz gerufen habe, erzählt er. Ihm sei das wie eine Marienerscheinung vorgekommen.

Die Liebe braucht das Übersinnliche

Da hat einer den Zugang zu dem Übersinnlichen, Romantischen, Religiösen bewahrt – und wird dadurch in den besten Texten nicht nur zu dem grossen Erzähler, sondern auch zu dem originellen, anregenden konservativen Querdenker. Einer, der in dem katholischen Milieu von Zug aufgewachsen ist, in dem Kloster Einsiedeln als Internatszögling die Matura gemacht hat und darin dem Vater, dem späteren Bundesrat Hans Hürlimann, gefolgt ist. Einer, der in Berlin Philosophie studiert hat, in den 1970er-Jahren die Studentenrebellion, die sexuelle Befreiung und die marxistische Gesellschaftskritik geteilt hat und damit nicht glücklich geworden ist. Einer, der schon als Jugendlicher nur eines wollte: Schriftsteller werden.

Einer auch, der nun in dem Sammelband «Spaziergang mit dem Kater» sein Leben ausbreitet, das Familienalbum grosszügig öffnet und als wacher Zeitkritiker einen Epochenbruch beklagt. Letztlich einer, der das Religiöse für seine Kunst als Kern der Romantik, nämlich als Quelle für Fantasie und das Ausloten seelischer Tiefe erkennt, fern von psychotherapeutischer Auslegung. Der Glaube an das Übersinnliche sei ohnehin Voraussetzung für die Liebe, in der so etwas wie ein Urbild, eine metaphysische Idee sich jedem offenbare. Es wundert darum nicht, kommt Thomas Hürlimann immer wieder auf Platon und Heidegger zu sprechen.

Wie jeder Romantiker droht er dabei jedoch in die Sehnsuchtsfalle zu tappen und als Melancholiker, Spötter oder Choleriker zu enden. Das wird vor allem in jenen Texten deutlich, in denen er die Veränderungen der Schweiz beschreibt. «Ich bin kein Freund des Fortschritts», schreibt er einmal dezidiert. Der Text über seinen Vater, der die Zukunft habe gestalten wollen und am Ende ein gebrochener Mann gewesen sei, wird ein Abgesang: «Die Schweiz wurde zu Monaco, Zug zu Abu Dhabi. Aus der historisch gewachsenen Fülle in die globale Leere – es war nur ein Schritt.»

Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Hürlimann verklärt den Katholizismus überhaupt nicht. Prügelnde Patres in Einsiedeln oder die für seine tiefgläubige Mutter Höllenqualen bedeutende katholische Lehre, dass totgeborene Babys von der Auferstehung ausgeschlossen seien (sie hatte zwei Totgeburten), machten ihn zeitweise gar zum zornigen Atheisten. Er vergisst auch nicht, dass seine Mutter, die Bundesratsgattin, sich komplett unterordnen musste. Ihr Lächeln habe sich ihm spät als Totenmaske entlarvt, so die bittere Bilanz. Der Konservative leidet ganz grundsätzlich am Spagat zwischen vertrauter Tradition und Moderne. Dessen Zwiespalt ist auch Thomas Hürlimanns eigenes wiederkehrendes Thema.

Aus dem Schriftsteller wird auch einmal ein polternder Leitartikler

Dass Hürlimann auch aufgrund seiner Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie einen Widerwillen gegen die EU und gegen politischen Zentralismus pflegt, hat er immer wieder bekundet. Von manchen wird er deshalb als Gegenpol begrüsst zu dem vermeintlich links-grünen Mainstream der Schweizer Gegenwartsliteraten. In seinen zeitkritischen Texten neigt er jedoch zu Überempfindlichkeit und höhnt etwa über den «Moralschleim, der heutzutage von den Kanzeln tropft». In dem Text «Über die Treppe» schreibt er, die moralsaure Empörung der Amerikaner in den späten 1990er-­Jahren über die Weltkriegspolitik der Schweiz habe ihn verärgert aus seiner Gastprofessur in den USA zurück in die Schweiz getrieben: In den US-Medien seien die Schweizer als «ein einzig Volk von Zahngoldräubern» dargestellt worden, die «an toten KZ-Häftlingen reich und fett geworden waren.»

Vielleicht mag es überinterpretiert sein. Aber die Schweiz scheint ihm eine mütterliche Heimat zu sein. Zu ihr rettet er sich, als er in Berlin zum Alkoholiker zu werden droht, hier retten Chir­urgen zweimal sein Leben. Die konservative Schweiz feiert er: «Behalten wir unsere Marotten. Stehen wir zu unserem Tresorismus.» Um gleich anzufügen: «Wer Nein sagt zum Blauhelm, der hätte ja sagen können zu einer Rotkreuz-Schweiz, die sich in dem internationalen Konfliktfall als landesgrosses Spital zur Verfügung stellt.»

Seine 1.-August-Rede 2018 mit ihrer Hau-drauf-Rhetorik hatte aus dem grossartigen, ironischen Schriftsteller einen polternden Leitartikler gemacht. Unter dem Titel «Toleranz ist ein anderes Wort für Feigheit» erschien der Text in der «Schweiz am Wochenende». Darin ereiferte er sich über Political Correctness, über die man sich ja getrost nerven kann. Aber sein humorloser Ton war erstaunlich unliterarisch: «Gender-Lehrstühle» würden «Studenten, Pardon! Studierende» zur «Sprachpolizei ausbilden», die mit ihrer «rigiden Moral», die den «Sprachkörper immer wieder vergewaltigt», als «Schergen der modernen Diktatur» auftreten. Kritiker würden von ihnen «abgeführt wie seinerzeit der tapfere Tell.» Das war Empörungsrhetorik ohne Witz oder doppelten Boden. Mit derart brachialen, klischierten Vergleichen hätte er sich auf dem Feld zorniger Schriftsteller mit dem ebenfalls zu maximaler Lautstärke neigenden Lukas Bärfuss duellieren können.

Gottfried Keller wäre heute ein «pathologischer Fall»

Aber man ist froh, hat Hürlimann im «Abendspaziergang mit dem Kater» auf solche Beiträge verzichtet. Denn in seinen in diesem Band versammelten Texten findet man literarisch Doppelbödiges, mit Witz und Stichen – durchaus treffsicher, aber mit feiner Klinge. Das lässt man sich sehr gern gefallen. Bedenkenswert ist vieles: Etwa sein leiden­schaftliches Plädoyer für Meinungsvielfalt und offene Debatte, die er in den nur immer sich selbst bestätigenden Milieus bedroht sieht: «Die Krise der Demo­kratie ist auch die Krise des ­Theaters», schreibt er und kritisiert, dass sich die «Bühne gern als Mitfühlstation gibt», aber die demokratische Pflicht hätte, «mit wuchtigen Inszenie­rungen» die Form der «dialektischen Ausein­andersetzung», also der möglichst ­offenen Rede und Gegenrede, zu ­pflegen.

Wie er Gottfried Keller als melancholischen Romantiker beschreibt, ist grandios. Eine gespaltene Persönlichkeit, ein pathologischer Fall – wäre wohl die zeitgeistige Diagnose, schreibt Hürlimann und bemerkt spöttisch, dass ihm «in Zürich ausnahmslos ­bipolar auffällige Menschen» begegnet seien. Ihm steht der Träumer, der ­Romantiker Keller viel näher als der von den Marxisten in der DDR verehrte Realist Keller.

Man kann das Buch als eine Autobiografie mit dramatischer Lebensbedrohung lesen. Seine Familiengeschichte ist ein Dauerthema in seiner Literatur. Dass er nun in «Abendspaziergang mit dem Kater» nochmals ausführlich darüber berichtet, sogar seine Abdankungsrede auf seinen mit zwanzig Jahren an Krebs verstorbenen Bruder abdruckt, mag man mutig, aufdringlich, indiskret finden. Das Grossartige aber: Im Kern wird so ein Denken erkennbar, das Individuum, Familie, Milieu und Gesellschaft zu einem Epochenbild zusammenfügt. Geschichtlicher Wandel wird bei aller Nabelschau durch die erlebte und erlittene Zeitzeugenschaft zu der eindringlich nachvollziehbaren Analyse.

Mit Selbstironie übergibt er die Zukunft den Jungen

Seine literarische Meisterschaft, die Ironie, die fabelhafte Bildlichkeit, Doppelbödigkeit und der elegante erzählerische Dialog mit der Kulturgeschichte präsentiert Hürlimann in dem Band mit ausgesucht heiteren, schelmischen Kurztexten. Da blinzelt jene selbstironische Seite an ihm hervor, die seine Texte sympathisch macht. So karikiert er charmant seinen eigenen Hang zum Übersinnlichen in «Spurensuche in ­Galizien», wo Literatur und Wirklichkeit scheinbar magisch verschmelzen. Auf der Suche nach den jüdischen ­Wurzeln seiner Mutter trifft er in dem ostpolnischen Przemysl lauter Romanfiguren aus dem «Schwejk». Schon wähnt er sich in dem übersinnlichen, wirklich gewordenen Literaturparadies, da wird ihm erklärt, es handle sich lediglich um eine Gruppe von Lieb­habern dieses Romans, die sich verkleidet hätten. Eine Geschichte, die auch gut hätte von Gottfried Keller erfunden sein können.

Nach dem facettenreichen, an dramatischen, persönlichen wie politischen Texten reichen Lebensspaziergang nimmt er sich in philosophischer Grosszügigkeit zurück: «Aber was klage ich – ich, ein alter grauer Kater! Die Welt will den Jungen gefallen, nicht unsereinem, so war es schon immer, so geht es jeder Generation. Die Alten gehen in die Vergangenheit, die Jungen in die Zukunft.» (Hansruedi Kugler)

Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater. S. Fischer, 304 S., ab 23.September im Handel