Schicksal eines Chamers erschüttert
Literatur & Gesellschaft
Auf knapp 200 Seiten wirft die 41. Ausgabe des Zuger Jahrbuches «Tugium» einen Blick auf die Zuger Geschichte.
Cham – Wussten Sie, dass das Zuger Polizeikorps in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz Anfang des 18. Jahrhunderts den Auftrag hatte, den Kanton von «Bettelgesindel» zu «säubern»? Die erste kantonal organisierte Polizeiwache, aufgestellt am 8. Juni 1804, bestand aus fünf mit Gewehr und Säbel bewaffneten sogenannten «Jägern». Bettler wurden aufgegriffen, in ihre Heimatgemeinde zurückgeführt oder gar angezeigt.
War Ihnen bekannt, dass der Erfinder der Kirschtorte, Heinrich «Heini» Höhn, einen akkurat frisierten Seitenscheitel trug? Während seine 1915 entwickelte Kuchenkreation weltbekannt ist, sind zu seiner Person nur wenige Informationen bekannt. Ein Porträt des Konditormeisters, welches das Zuger Staatsarchiv 2024 im Vereinsarchiv des Urschweizer Konditor-Confiseur-Meister-Verbands gefunden hat, stellt vor diesem Hintergrund einen überraschenden Fund dar.
Oder haben Sie mitgekriegt, dass Künstliche Intelligenz mittlerweile auch in die Geschichtswissenschaft Einzug gehalten hat? Mithilfe von KI analysierten Studierende Protokolle des Zuger Stadtrats und der Gemeindeversammlungen der Stadt Zug von 1471 bis 1798 und fanden so etwa heraus, was besonders beschäftigte – Holz zum Beispiel entpuppte sich als Dauerthema.
«Bedarf nach Geschichte steigt laufend»
Das – und noch viel mehr – erfährt man in der 41. Ausgabe des «Tugium». Am Dienstagabend fand im Burgbachsaal in Zug die Vernissage des von der Regierung herausgegebenen Jahrbuches statt. Vor vollen Rängen. Bildungsdirektor Stephan Schleiss meinte denn auch in seiner Ansprache: «Ich habe den Eindruck, dass der Bedarf nach Geschichte laufend steigt». Er sieht darin eine Gegenbewegung zu einer Gesellschaft, die von Wachstum und Globalisierung geprägt ist.
Wer sich für die Vergangenheit interessiert, wird im fast 200 Seiten starken und reichlich mit Grafiken und Bildern versehenen «Tugium» fündig. Zum einen finden sich darin die Rechenschaftsberichte des Staatsarchivs des Kantons, dem Amt für Denkmalpflege und Archäologie, dem Kantonalen Museum für Urgeschichte(n) und dem Museum Burg Zug.
Vor allem aber enthält das Buch acht Forschungsbeiträge – das «Salz in der Suppe», wie Regierungsrat Schleiss sie beschrieb. Projektleiter und Redaktor Daniel Schläppi hob dabei zwei Schwerpunkte hervor: Zum einen Biografien von Menschen aus verschiedenen Milieus und Zeiten, zum anderen die Verfolgung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres bürgerrechtlichen Status.
Wegen Homosexualität von den Nazis verfolgt
In Adolf Ferrari kommen die beiden Themen zusammen. Das Schicksal des Chamers erschüttert noch heute: 1914 geboren, wurde er als 19-Jähriger des Landes nach Italien verwiesen, weil sein Vater straffällig wurde. 1941 verhafteten die Nazis den jungen Mann – er lebte damals in Süddeutschland – während einer Razzia gegen Homosexuelle. Ferrari wurde zuerst ins KZ Dachau, dann ins KZ Buchwald bei Weimar gebracht, wo er schliesslich 1944 im Alter von 29 Jahren starb.
In vielen Details rekonstruiert der Zuger Historiker Michael van Orsouw im «Tugium» Ferraris kurzes, tragisches Leben. Während die Bestnoten in der sechsten Klasse noch ein verheissungsvolles Leben andeuteten, ist ein paar Seiten später dann Ferraris Inventarkarte im KZ abgebildet – fünf Unterhosen hatte er dabei. «Adolf Ferrari war zur falschen Zeit am falschen Ort und musste bitter dafür büssen», schliesst van Orsouw seinen Beitrag.
In den Blick nimmt das «Tugium» auch die Archivbestände des Gewerkschaftsbunds Zug, der Unia und ihrer Vorgängergewerkschaften, die erst kürzlich zugänglich gemacht wurden. «Die Arbeitergeschichte im Kanton Zug ist ein blinder Fleck», sagte Thomas Zaugg an der Vernissage. Er hat den Beitrag zusammen mit Sybilla Schmid Bollinger und Bruno Bolliger verfasst. Auch letzterer sagte zu den Bemühungen der Gewerkschaften: «Vieles geschah im Verborgenen».
Elf Laufmeter an Material sichteten die drei Autorinnen und Autoren und schufen eine erste Übersicht über die Themen. Es geht um die Zeit des Gewerkschaftskartells von 1938 und seinen Burgfrieden mit der bürgerlichen Politik, um Bildung und Mitbestimmung von Arbeiterinnen und Arbeitern zugerischer Unternehmen und um die Reaktion der Arbeiterschaft auf Entlassungswellen und Tendenzen der Deindustrialisierung in Zug ab den 1980er-Jahren.
Damit liege eine erste «Bestandsaufnahme» der Geschichte der Zuger Gewerkschaften vor, meinte Zaugg. «Jetzt kann man mit der Forschung beginnen.» Man darf gespannt sein, was noch alles ans Licht kommt.
HinweisDas «Tugium» 2025 kann beim Amt für Denkmalpflege und Archäologie bezogen werden (Hofstrasse 15, 6300 Zug, 041 594 28 28, info.ada@zg.ch) (Text: Tobias Söldi)
