Tanzen zwischen Liebe und Lüge – dramatisch und komplex

Theater & Tanz

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Mit «Story, story, die.» des norwegischen Choreografen Alan Lucien Øyen wurde im Theater Casino das Tanzfest Zug eröffnet.

  • Mit dem multidisziplinären Tanzstück «Story, story, die.» startete «Steps» in Zug. Bild: Jan Pegoraro (2. 5. 2024)
    Mit dem multidisziplinären Tanzstück «Story, story, die.» startete «Steps» in Zug. Bild: Jan Pegoraro (2. 5. 2024)

Zug – Das Theater Casino Zug lädt vor Gastspielen sein Publikum in der Regel zu Einführungen ein: Es kommt in den Genuss, die Regisseure, Dramaturginnen, Musikensemblegründer oder Choreografinnen persönlich kennenzulernen. Diese stehen im Foyer live am Mikrofon, machen die Besuchenden mit der angesagten Bühnenproduktion, ihrer Entstehung, Motivation und Wirkungsabsicht vertraut und beantworten Fragen. Bühnenkunst wird auf diese Weise nahbarer und lebendiger Teil des Alltags interessierter Menschen.

Selina Beghetto, eine der drei neuen Programmleitenden des Tanzfestivals «Steps», ging bei der Einführung zum multidisziplinären norwegischen Tanzstück «Story, story, die.» noch einen Schritt weiter. Das vom Migros-Kulturprozent produzierte Festival schickt alle zwei Jahre aktuelle zeitgenössische Tanzstücke aus In- und Ausland auf die Schweizer Bühnen. Im Programmflyer 2024 steht die Kompanie «winter guests» aus Norwegen an oberster Stelle, und Beghetto schilderte in freier und enthusiastischer Rede, warum. Ihre Schilderung begann, unerwartet und ungewöhnlich, mit einem Körper-Warm-up für alle Zuhörenden: Aufstehen, Glieder strecken und dehnen, vornüber hängen, Atmung und Herzschlag spüren. Konzentration nach innen, auf den eigenen Leib. So beginnen Profis das Tanzen. Und plötzlich gab es diese Brücke: Tanz ist in jedem Körper angelegt. Die frische, sich vor lauter Begeisterung auch mal verhaspelnde Einführung der erfahrenen Tanzdramaturgin Beghetto senkte die Barriere: Wir müssen niemandem etwas vormachen. Die Gesichter lösten sich, lächelten.

Falsche Identität für Likes

So nahm die Einführung emotional erfahrbar vornweg, worum es dem norwegischen Choreografen Alan Lucien Øyen in «Story, story, die.» geht: Einfaches Sein statt Für-andere-etwas-Vorstellen. Øyen gründete 2006 das multidisziplinäre Tanzensemble «winter guests», bestehend aus Schauspielern, Tänzerinnen, Schriftstellern, Bühnenbildnerinnen und Technikern. Er erschafft mit ihnen Stücke in englischer Sprache für die internationale Bühne.

Die Grundidee für «Story, story, die.» geht von einem Spiel aus: Alle sitzen im Kreis und erzählen gemeinsam eine Geschichte; die Spielleitung bestimmt, wer an der Reihe ist und die Geschichte weiterspinnen muss; wer zögert oder zu langsam reagiert, «stirbt» und wird aus dem Spiel geworfen. In «Story, story, die.» wird diese Ausgangslage als Metapher für das moderne Leben genommen: Analog und digital sind wir dauernd gezwungen, uns möglichst sympathisch zu präsentieren, eine falsche Identität zu konstruieren, um Likes oder andere Formen der Anerkennung zu bekommen.

Wo bleibt dabei das echte «Ich», gibt es dieses «Me» überhaupt noch? Darum kreiste während 90 Minuten das komplex zusammengesetzte Tanzstück Øyens und seiner sieben Tanzenden (Olivia Ancona, Zander Constant, Mai Lisa Guinoo, Pascal Marty, Lee Yuan Tu, Tom Weinberger, Cheng An Wu). In kurzen Sequenzen, die – geradezu filmisch – mittels abrupter Lichtwechsel begrenzt waren, begegneten sich sieben Körper, die sich teils alltäglich bewegten, teils hochkarätigen zeitgenössischen Tanz demonstrierten.

Gleichzeitig sprachen, riefen, schrien sie fragend-zweifelnde Texte, die im Hintergrund in deutscher Untertitelung projiziert wurden. Gruppenchoreos, Pas-de-deux oder Soli erforschten und entlarvten, wie zwanghaft Menschen ihr tägliches Leben arrangieren, um eine passende Geschichte zu erzählen. Wie die Sehnsucht nach Liebe so dringlich ist, dass sie in der Lüge strandet. Im Zentrum stand dabei auch eine unheimliche Figur, die als schwarz-weisses Skelett bemalt wurde und so als «Tod» bis zum Schluss vorkam, mal nackt, mal im roten Minijupe eine sexy junge Frau vortäuschend.

Das Reservoir motorischer, visueller und sprachlicher Einfälle der Truppe schien unerschöpflich, immer ging es noch weiter und tiefer, und schliesslich streckte man als Zuschauer alle Waffen und lieferte sich dem eindrücklichen Erlebnis ohne Haut und Analyse aus. Am Ende stehender Applaus. (Text von Dorotea Bitterli)