Erzählen gegen das Vergessen

Literatur & Gesellschaft

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Von 1940 bis 1945 lebten 12500 polnische Internierte in der Schweiz. Über diese ist nun ein Buch erschienen.

  • Marie-Isabelle Bill liest auf dem Dorfplatz aus ihrem Buch über polnische Internierte in der Schweiz. (Bild Matthias Jurt)
    Marie-Isabelle Bill liest auf dem Dorfplatz aus ihrem Buch über polnische Internierte in der Schweiz. (Bild Matthias Jurt)

Walchwil – An einem der ersten lauen Frühsommerabenden sitzt die Autorin Marie-Isabelle Bill auf dem Walchwiler Dorfplatz vor dem Café Riviera und liest aus ihrem 2020 erschienenen Buch «Interniert – Polnisch-schweizerische Familiengeschichten». Eingeladen von der jährlich stattfindenden «Freien Bühne» der Walchwiler Kulturkommission, entführt sie das circa 30-köpfige Publikum in die Zeit der Schweizer Kriegsmobilmachung unter General Guisan 1939–45.

Nach Grenzübertritt entwaffnet und interniert

Polen wurde im September 1939 von der deutschen Wehrmacht überfallen, der polnische Staat löste sich auf. In Paris bildete sich eine polnische Exilregierung und eine polnische Exilarmee, deren 2. Schützendivision zur Verteidigung Belforts abkommandiert wurde. Die rasch vorankommende deutsche Armee kesselte sie ein, worauf die französischen und polnischen Truppen ein Gesuch um Internierung in der Schweiz stellten. Erfolgreich, denn zwischen dem 18. und 20. uni 1940 überschritten bei Goumois JU 12500 polnische und 30000 französische Soldaten die Schweizer Grenze, wurden entwaffnet und interniert. Der zum Zeitpunkt der Bucherscheinung fast 100-jährige ehemalige polnische Unteroffizier Edward Zbigniew Królak erinnert sich: «Für mich ist das noch immer einer der schönsten Tage meines Lebens.»

Denn die Schweizer Bevölkerung nahm die Internierten freundlich auf. Diese wurden über die ganze Schweiz verteilt und leisteten Einsätze in der Landwirtschaft, im Strassenbau, bei Forstarbeiten, in Steinbrüchen und so weiter. Królak kam als deutschkundiger Gymnasiast in eines der Hochschullager.

Die offizielle Schweiz verbot Kontakte zwischen den jungen Polen und der Schweizer Zivilbevölkerung. Berühmt-berüchtigt wurde der sogenannte «Orange Befehl», der Liebesbeziehungen und Ehen mit Internierten explizit untersagte. Die Liebe ging jedoch ihre eigenen Wege, es entstanden schätzungsweise zwischen 380 und 500 Ehen mit sehr unterschiedlichen Schicksalen. Die «Polenkinder» aber waren Kinder unehelicher Verbindungen, weil Schweizerinnen ihr Bürgerrecht verloren, wenn sie einen Polen heirateten.

Das Buch soll das Schweigen brechen

Die «Interessengemeinschaft der Nachkommen internierter Polen in der Schweiz» ist die Herausgeberin des Buches, für das Marie-Isabelle Bill in zweijähriger Arbeit 21 Familiengeschichten gesammelt hat. Das jahrzehntelange Schweigen soll gebrochen werden. Das Buch ist daher ein Markstein in der Aufarbeitung der schweizerisch-polnischen Beziehungsgeschichte dieser Zeit.

Und so lernten sich 1942 die attraktive Bauerntochter Bertha Baumeler aus dem luzernischen Schongau und der Mathematiker Leszek Biały aus dem galizischen Kleinadel bei einem Kinobesuch in Winterthur kennen: Ihr fällt der Handschuh zu Boden, sie sucht ihn im Dunkeln, ertastet einen Offiziersstiefel, er hilft ihr suchen, begleitet sie nach Hause, findet fantasievolle Wege, sie zu umwerben. Sie werden ein Paar, ziehen 1946 nach Polen, heiraten, bekommen drei Kinder. Zofia, die jüngste Tochter, lebt heute im Waadtländer Winzerdorf Yvorne, hat vom Vater die Leidenschaft für Musik geerbt und pflegt sowohl die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Polen als auch polnische Gemüse- und Blumenspezialitäten in ihrem Garten. Auf die Frage, ob sie sich als Polin oder Schweizerin empfinde, weiss sie keine Antwort.

«Interniert» ist Oral History: Eine Niederschrift gelebter Geschichten, die – manchmal bürgerlich einfach, manchmal abenteuerlich aufregend – oft lange verschwiegen wurden, um die Nachkommen nicht zu belasten. Und die doch immer, unausgesprochen, da waren. Ein berührendes Buch. Die Lesung liess staunen, schmunzeln, mitleiden, nachdenken. (Dorotea Bitterli)

Hinweis
Infos über die Autorin und den weiteren Stand des Projektes: www.wortbar.ch und www.polonia1940.ch. Buchtitel: Marie-Isabelle Bill: Interniert. Polnisch-schweizerische Familiengeschichten. Chronos-Verlag, Zürich 2020, ISBN 978-3-0340-1589-9