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Literatur & Gesellschaft

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Vier hiesige Autoren leben und arbeiten im Val Müstair mehrere Wochen zusammen. Einer von ihnen berichtet.

  • Austausch zu Texten am langen Tisch in der Chasa Parli (von links): Noëmi Sacher (SZ), Bruno Blume (ZG), die Gastgeber Tim Krohn und Micha Friemel, Peter Weingartner (LU) und Romano Cuonz (OW). (Bild Romano Cuonz)
    Austausch zu Texten am langen Tisch in der Chasa Parli (von links): Noëmi Sacher (SZ), Bruno Blume (ZG), die Gastgeber Tim Krohn und Micha Friemel, Peter Weingartner (LU) und Romano Cuonz (OW). (Bild Romano Cuonz)

Zug – «Sie haben ihr Ziel erreicht», tut mir die Stimme aus dem Navi kund, als ich am grauen, verschneiten 18. Januar 2020 die engen Passagen des Münstertaler Dorfs Santa Maria passiert habe. Am linken Rand der Strasse erhebt sich ein gewichtiges Engadiner Haus mit rissigen Mauern, kleinen Fenstern und angebautem Stall: die Chasa Parli. Tritt man durchs wuchtige, hölzerne Portal ins altehrwürdige Haus, spürt man, wie es atmet. Und Raum für Raum Geschichten erzählen: Von einem hablichen früheren Bündner Bauer, der es 1619 erbaut hat. Oder von Ahnen, die einem aus Bildern an Wänden entgegenblicken: die Parlis! Sie haben das Haus später übernommen und ihm den Namen gegeben.

Und wie nun die abgeschliffenen Holzstufen der alten Treppe knarren, ist mir, als würden sie gleich wieder zur Tür hereinkommen: Der frühere Gemeindeschreiber Parli, sein Sohn, ein junger Pfarrer, der das Tal früh verliess. Oder die alte Mutter Parli, die das Haus bis zuletzt noch bewohnt hat.

Doch es sind neue Besitzer, die uns als Gastgeber begrüssen: Das Schriftstellerpaar Micha Friemel und Tim Krohn. Vor zwei Jahren haben sie das historische Bauernhaus, das 30 Jahre leer gestanden hatte, gekauft und mit grosser Liebe zu jedem althergebrachten Detail renoviert. Alle Zimmer wurden neu belebt: mit Liebhaberstücken, die oft aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammen. Selbst Bundesrat Ignazio Cassis lobte bei seinem Besuch im Val Müstair die Atmosphäre und Ruhe, die dieses Tal und ganz besonders auch dieses alte Haus ausstrahlen.

Ein unterschiedliches Quartett

Dass diese Stille auch Literaten gut bekäme, davon war der Schwyzer Kulturbeauftragte Franz-Xaver Risi überzeugt. Literatinnen und Literaten aus Zentralschweizer Kantonen sollten sich von diesem Ort betören und inspirieren lassen. Für dieses Experiment als erste ausgewählt wurden vier Schreibende, die unterschiedlicher nicht sein könnten: eine Dreissigerin, ein Vierziger, ein Sechziger und ein Siebziger. Die jüngste im Quartett heisst Noëmi Sacher und kommt aus Arth. Sechs Wochen lang den Kopf freihalten will sie, um wie einst Parzival nach dem Gral zu suchen. Geplant ist ein historischer Roman.

Der gebürtige Zuger Autor und Verleger Bruno Blume begleitet in seinem neuen Kinderbuch mitfühlend den kleinen Pipe. Der ist so anders als andere Kinder. Anders, aber eben doch zufrieden und stark! Peter Weingartner aus dem luzernischen Triengen konfrontiert seinen mittlerweile bekannten Surseer Ermittler Anselm Anderhub mit gleich zwei neuen äusserst kniffligen Fällen: Mord beim Gansabhauet und auf der Burgruine Kastelen. Seine Frage: Ob er als Autor im Müstair all die kriminalistischen Knoten, die es da noch gibt, lösen kann.

Und ich? Ich bin mit der Absicht angereist, eine brisante Obwaldner Polit- und Steuerfluchtgeschichte aus den 1980er Jahren, die ich hautnah miterlebt habe, zu einem Roman zu verarbeiten. Doch da tauchen Fragen über Fragen auf: Aus welcher Perspektive soll ich erzählen? Wie viel Verfremdung ist ratsam? Wie viel notwendig?

Tim Krohns hilfreiche Fragen

Teil des Atelier-Experimentes ist es, dass Tim Krohn und seine Frau Micha uns für beratende Gespräche zur Verfügung stehen. Die Familie Krohn wohnt mit Grosseltern und ihren vier Kindern – das jüngste ist gerade einmal zwei Monate alt – nur ein paar Häuser weiter. Micha ist auch eine fantastische Köchin, und sie bäckt, zusammen mit Tim, das beste Brot. Zwei Mal die Woche heissen Krohns uns am Familientisch willkommen.

Diese Kontakte sind für uns sehr wichtig. Peter Weingartner bilanziert: «Krohns Art von Beratung ist es nicht, Tipps und Ratschläge zu geben. Seine Hilfe besteht darin, dass er Fragen stellt, die man für sich selbst beantworten muss.» Ich selbst wollte von Tim Krohn wissen, wie aus vorerst journalistischen Recherchen ein glaubhafter Roman entstehen könne. Sein Rat hört sich einfach an, ist aber schwierig umzusetzen: «Schreib so aufrichtig, unverfälscht und unmittelbar, dass du in jeder Zeile drin bist!», sagte er mir.

Schon am Ankunftstag sagte Tim Krohn zu uns: «Um kreativ zu sein, braucht es optimale Bedingungen, die versuchen wir euch in unserer Chasa Parli zu bieten.» Apropos Essen: da steht unsere «WG auf Zeit» vor einer echten Herausforderung. Bruno Blume isst – mal radikal, mal nachsichtig – vegan. Peter Weingartner scheut Zwiebeln mehr als der Teufel das Weihwasser.

Ich selber habe nie kochen gelernt. Vermisste aber nach zwei Kichererbsentagen eine ehrliche Bratwurst so sehr, dass ich sogar die panische Furcht vor dem einzigen modernen Stück in der Chasa Parli – diesem verflixten Induktionsherd – ablegte. Glücklicherweise hat Noëmi Sacher eine Engelsgeduld. Und dies, obwohl «moderne Frau» kaum versteht, dass «Mann meiner Generation» nie kochen gelernt hat.

Unsere Küchen- und Tischgespräche drehen sich regelmässig um die Arbeit. So verschieden die Projekte auch sind, unterstützen wir uns gegenseitig bei Plot- und Strukturproblemen. «Ich gewinne wichtige Erkenntnisse für meine Weiterarbeit oftmals erst, wenn ich einen interessierten und kritischen Zuhörer habe», erklärt Noëmi Sacher. «Bei meiner Gralssuche laufen so viele Handlungsfäden parallel, dass ich den Überblick verloren habe.» Der Knoten hat sich gelöst und die Schwyzerin kann intensiv weiterschreiben.

Fix terminiert sind die «Samstagsgespräche», die Bruno Blume initiiert hat und auch leitet. Wir legen uns gegenseitig Textfragmente vor, stellen Fragen dazu. Blume meint: «Miteinander Texte anzuschauen hilft sehr. Im eigenen Text sieht man Stolpersteine oft nicht mehr, während man sie in fremden Manuskripten sofort erkennt.» Für uns Ältere ist nach dreissig Jahren einsamem Schreiben gemeinsames Bearbeiten eher ungewohnt. Verwirrend gar. Aber es kann durchaus zu unserem eigenen Nutzen sein, wenn wir da über unseren Schreibschatten springen.

Ein Dorf mit literarischer Aura

Eines haben wir gemeinsam: Auf der Suche nach Ideen joggen und wandern wir zahllose Kilometer. Talauf und talab. In dichtem Schneegestöber, bei Glatteis, aber auch im warmen Licht der schon fast südlichen Sonne. In Santa Maria verschwindet sie allerdings schon am frühen Mittag hinter dem Hausberg «Piz Mezdi» (Mittagskogel). Doch gegen vier Uhr kommt sie, ganz unverhofft, wieder zum Vorschein und setzt das Dorf in doppelt schönes Licht.

Für Literaten scheint Santa Maria ein idealer Ort zu sein. Wie ich einmal schaue, wem denn das wunderschöne Bündner Haus mitten im Dorf – direkt gegenüber jenem der Krohns – gehört, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf dem Schild über dem Klingelknopf steht: «Donna Leon Margaret.» Ja, wenn selbst der weltberühmte Commissario Guido Brunetti sich aus dem korrupten Venedig hierher zurückzieht, muss das kleine Bündner Dorf schon von einer ganz besonderen literarischen Aura umgeben sein.

Und genau diese Aura ist es, die auch wir vier Zentralschweizer Schreibenden spüren. Von Woche zu Woche mehr. Und man spürt sie nur schon, wenn einem auf Spaziergängen – ob von Einheimischen oder Gästen – dieses wunderschön klingende rätoromanische «Allegra» zugerufen wird. Übersetzt heisst dies nichts anderes als: «Freue (dich)!» Und das tun wir. Bis zum letzten Tag unseres sehr inspirierenden Schreib- und WG-Aufenthalts. (Romano Cuonz)