Solothurn nur digital – «I’m not in love»

Literatur & Gesellschaft

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Die 42. Literaturtage waren ein mutiges Abenteuer in der Not: Unser Autor hat sie ausnahmsweise zwei Tage am Laptop mitverfolgt.

Zug – Nein, eine Liebesbeziehung wird das nicht. In den Computer starren, wenn der Alltag links und rechts weiter flimmert – Konzentration ist da eine Herausforderung. Das gilt nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Autorinnen und Autoren. Die Krux von Online-Literatur formulierte bereits am Freitagmorgen die Schriftstellerin Simone Lappert: «Es ist eben was anderes, ob ich zu Hause in einen Laptop performe und im Augenwinkel noch das Bügelbrett oder die Steuererklärung auf dem Schreibtisch sehe.» Nun, sie hatte trotzdem einen kurzen Livemoment und performte den Beginn ihres Romans «Der Sprung» vor prominentem Einfrau-Publikum: Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga.

Die Bundespräsidentin hatte sich Simone Lappert als Gesprächspartnerin gewünscht, weil sie deren Roman «Der Sprung» durch die Coronakrise begleitet und sehr beeindruckt habe. Literatur und Politik gehörten für sie zum Alltag, sagte Sommaruga, die mit dem Schriftsteller Lukas Hartmann verheiratet ist: «Ich lese jeden Abend in einem literarischen Buch und ich mache jeden Tag Politik.» Der Sprung ins Leere im Roman von Simone Lappert, die Unsicherheit, die Widersprüchlichkeit in den Menschen, die dieser Lebenskrise ausgesetzt sind oder als Beobachter zuschauen – darin sehe sie enorm viele Parallelen zu ihrer Arbeit im Bundesrat, gerade während der Coronakrise. Und sagte zu ihrem generellen Interesse an Romanen: «Das ist es, was mir Literatur bedeutet: Dass ich mit Menschen in Kontakt komme, auf diese literarische Weise.»

Kleine Pannen und eine selbstironische Pausenmusik

Der Entscheid, die Literaturtage wegen Corona nicht ganz abzusagen, sondern ins Digitale zu verlagern, war bewundernswert mutig, und die Technik hat grösstenteils gut funktioniert. Dass man auf klassische Lesungen mit Moderation verzichtet hat, ist nachvollziehbar. So konnte man sich über die oft lebhaften und spannenden Gespräche freuen. In der Studio-Atmosphäre wirkten Moderatorinnen und Gäste sicht- und hörbar angenehm entspannt, lässig und trotzdem konzentriert.

Dass dabei auch unfreiwillige Komik mitspielte, konnte man mit einem Lächeln quittieren. Gleich zu Beginn des Festivals nahm man ein paar Minuten lang ungeplant an der Videobesprechung zwischen dem Informatiker hinter den Kulissen und der Regie teil: «Reina, für das Back-up wechseln wir den Provider. Das dauert ein paar Minuten.» Und nach dem Eröffnungsgespräch und der Begrüssung durch Literaturtage-Chefin Reina Gehrig ging als erste Pausenmusik ausgerechnet der 10CC-Oldie-Hit «I’m not in love» übers Netz. Man sollte zwar nicht jede Begrüssungsmusik gleich als Motto überinterpretieren. Aber diese Liedwahl musste man als Selbstironie verstehen. «It’s just a silly phase I’m going through» (Es ist nur eine törichte Phase, durch die ich gehe), heisst es da.

Was gleichzeitig die Hoffnung auszudrücken schien, dass man im kommenden Jahr wieder wie gewohnt im dicht gedrängten Landhaussaal Literatur lauscht, am Aareufer flaniert und in den Beizen mit Freunden diskutiert, auf dass die Solothurner Literaturtage eine Langzeitliebe bleiben – über die diesjährige Ausgabe hinaus. Auch wenn man natürlich zynischerweise denken könnte: Das Online-Festival spart einem Kosten für Anreise, Ticket, Verpflegung und Hotel, man muss nicht im Gedränge warten und Peter Bichsel nicht stehend hören, weil in der Säulenhalle wieder mal viel zu wenig Platz ist.

Die Festivalleitung zog gestern jedenfalls eine positive Bilanz: Auf die zwei Tage verteilt über 10000 Zugriffe auf den Livestream, von 150 bis 250 Geräten gleichzeitig. Eine beachtliche Zahl. In anderen Jahren verzeichneten die Literaturtage gegen 18000 Besucherinnen und Besucher.

Einmal mehr ein wunderbarer Peter Bichsel

Paradoxerweise war man den Schriftstellerinnen und Schriftstellern bildlich näher denn je. Zum Beispiel dem wunderbaren Peter Bichsel, der über den Verlust des öffentlichen Raums, das Sentimentale des Erzählens oder seine Liebe zu den Menschen immer wieder fabelhafte Sätze sagte wie: «Ich mag Leute, die grosse Mühe haben, zu denken, und es trotzdem versuchen», oder «Beobachten ist Schauen mit einem Vorurteil. Ein Polizist beobachtet, weil er weiss, was er sehen will: einen Täter. Ich breche zusammen, wenn von mir gesagt wird, ich sei ein guter Beobachter. Ich schaue, das ist vorurteilslos.»

Man erfuhr von Simone Lappert, dass in ihrer winzigen Wohnung kein Platz für einen Schreibtisch sei, sie deshalb am Esszimmer schreibe, und im Podium «Literatur und Moral» von Lukas Bärfuss, dass er sich überlegt habe, ob er wegen Corona mit dem Velo von Zürich nach Solothurn fahren solle, dann aber wegen des Heimwegs doch «mit Maske und voll desinfiziert» in den Zug gestiegen sei. Und über die Moral in der Literatur: «Jeder, der spricht, verhält sich moralisch.» Berührbar bleiben, nichts zynisch hinnehmen, das sei sein Motto. Er brach eine Lanze für die Political Correctness, es sei ein Fortschritt, dass Minoritäten das Recht eingeräumt werde, mitzubestimmen, mit welchen Begriffen man über sie rede. Zensur sei aber ein Problem. Dass in Dickens «Oliver Twist» eine krass antisemitische Figur vorkomme, habe ihn beim Vorlesen bei seinen Kindern in ein Dilemma gestürzt: «Das Buch weglegen oder eine schmerzhafte Diskussion aushalten?»

Hoffnungslos in der Türkei und ein glücklicher Kinderbuchautor

Der bewegendste Moment in den zwei Tagen war sicher die Liveschaltung zur türkischen Autorin Asli Erdogan nach Berlin, die mit ihrem kafkaesk-poetischen Roman «Das Haus aus Stein» über das Trauma des Eingeschlossenseins vom Schriftstellerverband PEN eingeladen war – ein Roman, den sie vor ihrer eigenen Haft geschrieben hatte. Zur Situation in der Türkei antwortete sie erschöpft: «Die lernen nichts. Ich bin nah daran, aufzugeben. Sie entlassen Mafiosi wegen Corona aus dem Gefängnis, stecken aber Studenten wegen Twitter-Einträgen in die gesundheitlich unverantwortlichen Gefängnisse.»

Schade war, dass am Samstag die Premiere des Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreises nur per Videoschaltung zum Sieger stattgefunden hat. Nando von Arb hätte mit seinem tollen Buch «3 Väter» einen grösseren Auftritt verdient als die knappe Viertelstunde.

Mein persönliches Fazit: Die Liebe zu den Solothurner Literaturtagen ist trotz Digital-Festival nicht gestorben. Sie bleibt dank spannender Gespräche und Einblicke ins literarische Leben lebendig! (Hansruedi Kugler)