Manns «Zauberberg» – hybrid, immersiv

Theater & Tanz

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Das deutsche Kollektiv RAUM+ZEIT verwandelt die Bühne des Theater Casinos Zug mittels Virtual Reality in ein hybrides Raum-Zeit-Gefüge. Im Zentrum stand anlässlich des 150. Geburtstags von Thomas Mann dessen ikonisches Werk. Ein Pionierprojekt.

  • 3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn
    3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn
  • 3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn
    3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn
  • 3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn
    3D, ausdruckvolles Schauspiel und modernste Technik: Impressionen von Manns «Zauberberg» im Theater Casino Zug. Bilder: Matthias Horn

Zug – Im Mai 1912 reiste Thomas Mann nach Davos, um seine Frau Katia zu besuchen, die dort im Waldsanatorium Dr. Jessen zur Kur weilte. Gemeinsam mit den Lungenkranken nahm er das Nachtessen im Speisesaal ein. Dieser Abend inspirierte ihn zu seinem monumentalen Roman «Der Zauberberg».

Dessen Hauptfigur Hans Castorp ist ebenfalls tuberkulös, zerbrechlich und hochsensibel für seine Umgebung, eine schillernde Kur-Gesellschaft von exzentrischen Individuen aus aller Herren Länder. Die er nun spiegelt und von der er kaum mehr loskommt. Thomas Mann hat im Roman die «ungeheuren Zeiten», Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs, verarbeit, aber auch individuelle und politische Themen wie Tod und Liebe, Fortschritt und Reaktion, Freiheit und Widerstand. Humoristisch und nihilistisch: Individuum und Gesellschaft «am Abgrund».

Zug als Modell für einen westlichen Lebensentwurf

Das Bühnenstück «ZAUBERBERG :: Expedition in die Gegenwart» des deutschen Kollektivs RAUM+ZEIT (Regie Bernhard Mikeska) ist in Koproduktion mit dem Theater Casino Zug entstanden. Intendantin Ute Haferburg hatte das Kollektiv eingeladen, ein Werk explizit für den Standort zu konzipieren: «Die Stadt Zug als Rückzugsort der Handeltreibenden, weit weg vom Chaos der Welt, steht dabei Modell für einen europäischen westlichen Lebensentwurf», heisst es in der Medienmitteilung.

RAUM+ZEIT pflegt neue immersive Theaterformen, in welchen reale und fiktive Räume verlinkt werden; seit 2018 erforscht das Kollektiv auch, welche Möglichkeiten Virtual Reality (VR) für die Darstellenden Künste birgt. «Entstanden ist», so Haferburg in der Einführung, «eine hybride Theaterform mit analogem Schauspiel einerseits, VR-Brillen und 360°-Film andrerseits. Bisher gab es dies in der Schweiz noch nicht.»

Im Theater Casino Zug werden 82 Zuschauende auf die Bühne gebeten, wo die Spielfläche von vier Sitzreihen umgeben ist. Sie bekommen erklärt, wie die VR-Brille funktioniert, dann beginnt das Stück – im Speisesaal des Davoser Sanatoriums; dieses war ja der Funke für Thomas Manns Inspiration.

Im Wechsel zwischen Virtual Reality und Live-Spiel begegnen dem Publikum vier unvergessliche Figuren des «Zauberbergs», die ihrem Schöpfer entgegentreten: dem Protagonisten Hans Castorp, wunderbar filigran, nervös und hustend gespielt von Judith Hofmann; der reichen Femme Fatale Clawdia Chauchat, feministisch selbstbewusst dargestellt im roten Kimono-Mantel durch Sophie Hutter; dem Kapitalisten und Dealmaker Mynheer Peeperkorn (Michael Benthin); und Leo Naphta (Peter Jecklin), der im schwarzen Ledermantel radikalen Machtanspruch verkörpert und den «Abgrund» als Option ins Auge fasst.

Eine Metapher für 2025

Einerseits ist es faszinierend, was man mittels VR-Brille erfahren kann: 360°-Speisesaal und -Schneelandschaft, sich wie im Film bewegende Figuren, die unerwartet ein- und ausgeblendet werden; und die einem so nahe auf den Leib rücken, dass man physisch zurückweicht. Jede mimische Regung, die kleinsten Gesten, Kostümdetails sind zum Greifen nah. Andrerseits erleichtert es, immer wieder in die analoge Welt auftauchen zu dürfen, wo Worte und Bewegungen der Schauspieler die imaginäre Kulisse und die Ereignisse evozieren – Speisesaal, hohe Berge, Aufstieg zum Gipfel und Absturz.

Das Erlebnis dieser Überlagerung von zwei Theatermitteln beansprucht beim Zuschauen stark. Damit tritt der inhaltliche Anspruch – das frühe 20. Jahrhundert als Metapher für die heutige Zeit mit vergleichbarer Saturiertheit und Katastrophen-Ahnung – etwas in den Hintergrund. Und doch schwebt da ganz fein eine beklemmende Stimmung von abnehmender Widerstandskraft und Angst vor dem Kommenden.

Ein Satz Naphtas aber fällt wie ein Stein ins Wasser: «Die Krankheit heisst: Freiheit!» Kommt er aus dem Mund eines faschistoiden Weltanzünders, der die Massendiktatur anstrebt? Man denkt: Putin, Trump und Konsorten. Oder stellt er fest, dass eine auf Selbstoptimierung und -bespiegelung getrimmte Gesellschaft ihre Resilienz verliert, sich überindividuell zu einigen und gemeinsam dem Abgrund zu widerstehen? (Text von Dorotea Bitterli)

 

Hinweis

«ZAUBERBERG :: Expedition in die Gegenwart» wird wiederholt am 3. und 4. Mai. Infos und Tickets: www.theatercasino.ch