Die Schale aus der Tiefsee

Brauchtum & Geschichte

,

Das Schweizerische Nationalmuseum ist im Besitz zweier Exponate, welche anschaulich das hochstehende Zuger Gold- und Silberschmiedhandwerk des Barock repräsentieren.

  • Hohe Zuger Handwerkskunst: Einer der beiden barocken Nautiluspokale aus der Werkstatt Müllers ist derzeit im Zürcher Landesmuseum ausgestellt. (Bild Andreas Faessler)
    Hohe Zuger Handwerkskunst: Einer der beiden barocken Nautiluspokale aus der Werkstatt Müllers ist derzeit im Zürcher Landesmuseum ausgestellt. (Bild Andreas Faessler)

Zug – Sogenannte Nautiluspokale gehören mit zu den beeindruckendsten plastischen Kunstgegenständen der vergangenen Jahrhunderte. Ihr Hauptbestandteil ist eine Schale aus den Tiefen des Ozeans. Es handelt sich meist um das Gehäuse des Gemeinen Perlbootes – lat. Nautilus pompilis –, eine mit der Gattung Oktopus verwandte Spezies. Im Gegensatz zu diesen verfügen Perlboote über eine äussere Kalkschale.

Solche Schalen wurden im ausgehenden Mittelalter von Seefahrern nach Europa gebracht und fanden in dortigen Kuriositätenkabinetten Bewunderung. Erste namhafte Verwendungen in der bildenden Kunst fanden die Nautilusschalen vermutlich im 16. Jahrhundert im niederländisch-flämischen Raum. Kühne Kreationen in Kombination mit Schmiedarbeiten waren bei der Oberschicht beliebt. Die immer aufwendiger gestalteten Pokale fanden dann auch Einzug in die opulente Stillleben-Malerei.

Selbstredend, dass die Herstellung von Nautiluspokalen vor allem in der Barockzeit gewissermassen zu einer Königsdisziplin der führenden Gold- und Silberschmiede geworden war. Solche waren auch in Zug ansässig, denn ab dem 17. Jahrhundert haben mehrere Handwerker in den europäischen Zentren der Goldschmiedekunst – beispielsweise Augsburg – ihre Fertigkeiten erlernt und sie zurück in die Heimat gebracht.

Zwei prächtige Exemplare aus Zug

Zum illustren Kreis der Zuger Gold- und Silberschmiede des 17. Jahrhunderts gehörte Melchior Maria Müller (1643–1702). Über diesen Meister scheint biogra­fisch wenig erfasst. Doch auch er hat sein Können unter anderem am Nautilus-Thema bewiesen: Von Müller hat sich ein prächtiges Paar solcher Pokale aus der Zeit um 1670/1680 erhalten. Sie sind heute im Besitz des Schweizerischen Nationalmuseums.

Es handelt sich um zwei in Aufbau und Gestaltung identische, knapp 42 Zentimeter hohe Gegenstücke. Inhaltlich-thematisch beziehen sie sich auf die Herkunft der Schale – das Meer. Über dem kunstvoll getriebenen Fuss des einen Pokals sitzt der keulenschwingende Herkules auf einem Seeungeheuer. Dieses Motiv entspricht auf dem Gegenstück einer weiblichen Figur, deren Beine in die Flossen eines Fisches übergehen.

Diese beiden Gestalten tragen die aufwendig gefassten Nautilusschalen. Sie werden von je einer weiteren vollplastischen Figur bekrönt. Auf dem Schalenwirbel desjenigen mit der Fischfrau sitzt eine Männerfigur, deren Gestaltung sie als Wasserwesen identifizieren lässt. Auf dem Herkules-Pokal sitzt eine Frau mit einer Art Segelband. Auf diesem ist das Familienwappen der Dorer erkennbar. Das Landesmuseum in Zürich bezieht sich in der Beschreibung der Objekte auf eine nicht belegte Überlieferung, wonach die beiden Pokale ein Ehrengeschenk der Tagsatzung der Schweizer Kantone an Kaspar Dorer, Schultheiss von Baden, gewesen sein sollen.

Aus der Privatsammlung ans Museum

Wo die beiden Nautiluspokale aus Zug danach verblieben sind, ist unklar. Um die Jahrhundertwende fanden sie sich im Fundus des Schweizer Kunstsammlers Heinrich Angst (1847–1922). Der prominente Textilkaufmann und Kunstsammler war 1890 einer der treibenden Kräfte für die Gründung des Schweizerischen Landesmuseums und für die Wahl von Zürich als dessen Hauptstandort.

Von 1892 bis 1903 war Angst erster Direktor des Museums. Im Zuge der Übergabe seines Amtes an seinen Nachfolger überliess der Kunstsammler seine Privatsammlung dem Museum. Darunter auch die beiden Zuger Nautiluspokale, welche bis heute eindrücklich davon zeugen, dass Zug auf eine lange Tradition als Zentrum für hochstehende Gold- und Silberschmiedekunst zurückblicken kann. (Text von Andreas Faessler)

Hinweis
Einer der zwei Müller’schen Nautiluspokale – derjenige mit Herkules – ist in der aktuellen Ausstellung «Barock – Zeitalter der Kontraste» im Landesmuseum Zürich zu sehen (noch bis 15. Januar 2023).
In der Serie «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fund­stücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.