Die Verhüllung hochwertiger Kunst

Kunst & Baukultur

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Serie Zuger Skandale: Die Bemalung von Wänden in der neuen Pfarrkirche Oberwil empört die Gemüter.
Es entbrennt ein schweizweit geführter Streit um den Wert der Kunst.

  • Innovativer Kirchenbau: Hanns Anton Brütsch setzte mit seiner Architektur der Oberwiler Kirche Massstäbe. Bild: Architekturbibliothek.ch, Andrea Monika Ellenberger
    Innovativer Kirchenbau: Hanns Anton Brütsch setzte mit seiner Architektur der Oberwiler Kirche Massstäbe. Bild: Architekturbibliothek.ch, Andrea Monika Ellenberger
Oberwil b. Zug – Stellen Sie sich vor, dass Sie als führender Kirchenmaler des Landes gelten. Und dass der Kirchenrat ihre Entwürfe alle gutheisst. Und stellen Sie sich vor, dass Sie ihre Entwürfe umsetzen. Und dass sich plötzlich eine Gegnerschaft meldet. Dass Sie augenblicklich alle ihre Arbeiten einstellen müssen. Dass Ihr Auftrag gestoppt wird. Dass Sie ins Kreuzfeuer einer national geführten Debatte geraten. Dass Ihre Arbeiten hinter Vorhängen verhüllt werden. Genau das passierte in den 1950er-Jahren in Oberwil bei Zug. Ferdinand Gehr (1896– 1996) war der führende Sakralmaler der Schweiz. Zuerst hatte der Basler Architekt mit Büro in Zug, Hanns Anton Brütsch (1916–1997), die Oberwiler Kirche als neuartiges, offenes Zelt Gottes erstellt, damals eine der fortschrittlichsten Kirchen in Europa, weil er mit einem innovativen Raumkonzept Gläubige und Geistlichkeit zu einer Einheit zusammenfasste. So weit, so gut. Doch wer Brütschs innovativen Kirchenbau betrachtete, dem wurde schnell klar, dass die leeren Betonwände unter dem grossen Holzzeltdach künstlerischen Schmuck benötigten. Mehr noch: Sie sollten eine künstlerisch hochwertige Entsprechung zur modernen Architektur bieten können.

Die Skizzen gefielen
Der Zuger Kirchenrat beauftragte Ferdinand Gehr mit dieser Aufgabe und bestellte bei ihm Entwürfe. Gehr, der arrivierte Sakralkünstler und gute Katholik aus dem St. Galler Rheintal, ging in sich und suchte nach Umsetzungen seiner zutiefst gläubigen Haltung und Spiritualität. Er erstellte Skizzen seiner Vorstellungen, die beim Kirchenrat sehr gut ankamen, sodass der Ausführung nichts mehr im Wege stand. Gehr erstellte in den feuchten Verputz hinein zuerst die linke (nördliche) Kirchenwand, wo er das letzte Abendmahl mit den Jüngern, Jesus und Engeln darstellte, in seiner einzigartigen Bildsprache. Kaum hatte der Kunstmaler die erste Kirchenwand bemalt, ging der Sturm der Entrüstung los. Vor allem Leute aus dem Dorf Oberwil fühlten sich übergangen und ärgerten sich lautstark über die moderne Kunst an ihrer Kirchenwand. Der Widerstand war so heftig, dass Gehr seine Arbeiten vorderhand einstellen musste. An ein Weiterarbeiten war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Manche verglichen Gehrs Malerei mit Kinderzeichnungen, einer meinte: «Warum Christus in solcher Räubergestalt abbilden?» Andere verglichen die Apostel mit «Jammergestalten eines Konzentrationslagers». Das war ungewohnt harte Kritik, die eine Kunstdebatte nach sich zog, wie sie die Schweiz selten zuvor erlebt hatte. Denn im damaligen Zeitalter des Aufbruchs und der Halbstarken eckte moderne Kunst besonders an. Es meldeten sich auch Befürworter, die Gehrs Christusfigur «erschütternd schön» fanden. Andere lobten den spirituellen Geist und bekannten, dass sie die Bilder immer und immer wieder anschauen könnten. Auf beiden Seiten äusserten sich Sachverständige, Universitätsprofessoren oder auch selbst ernannte Experten aus der ganzen Schweiz; das zuvor unbekannte Dorf Oberwil bei Zug wurde plötzlich zu einem Synonym für einen gehässig geführten Bilderstreit. Der Graben zwischen den Befürwortern und den Gegnern ging auch quer durch das Dorf Oberwil, vereinzelt sogar quer durch manche Familien. Doch die Mehrheit, das zeigte eine Abstimmung, stellte sich gegen Gehrs Bilder.

Der spätere Bundesrat interveniert

Kunstmaler Ferdinand Gehr war fassungslos darüber, was da vor sich ging, er fürchtete um seine Existenz, immerhin hatte er einen verbindlichen Auftrag und fünf Kinder zu ernähren. Deshalb wandte er sich an einen befreundeten Rechtsanwalt in St. Gallen. Dieser hiess Dr. Kurt Furgler (1924–2008) und wurde später als Bundesrat national bekannt. Mit einem scharf formulierten Gutachten machte Furgler den Zuger Kirchenräten klar, dass Gehrs Auftrag gültig sei. Der Kirchenrat geriet damit zwischen die Fronten. Wollte er sich gegen einen Teil der Basis in Oberwil stellen? Oder gegen die juristische Verbindlichkeit? Er kam zu einem salomonischen Entscheid. Gehr durfte zwar seine Arbeiten fertig ausführen und abrechnen. Doch wenn diese fertig waren, würden diese verhüllt. Die Kunstwerke, sobald sie ausgeführt und getrocknet waren, verschwanden hinter riesigen Stoffvorhängen. Jetzt war die moderne Kirche Bruder Klaus in Oberwil diejenige mit den merkwürdigen Vorhängen. Das war sogar für das Schweizer Fernsehen von Interesse, und ganze Architektur- und Kunstklassen aus der ganzen Schweiz pilgerten nach Oberwil, um die Kirche anzusehen und um kurz hinter die Vorhänge zu blicken. Auch bei Hochzeiten hatten die Sigristen gegen ein kleines Sackgeld ein Einsehen und schoben die Vorhänge zur Seite, damit die jungen Paare nicht in einer verhüllten Kirche heiraten mussten. Anfang der 1960er-Jahre tagte das vatikanische Konzil. In der Folge überrollte ein neuer Geist, den das Gotteshaus in Oberwil mit ihrer Architektur schon spiegelte, die katholische Kirche. Deshalb wagte der Kirchenrat von Zug eine neue Abstimmung: Und siehe da – die Mehrheit war für die Enthüllung von Gehrs Bildern. Seither zählen seine Werke zu den bekanntesten Sakralwerken der Moderne in der Schweiz. Gehr und seine Wandbilder wurden rehabilitiert. Gerade aufgrund des Skandals ergaben sich für Kunstmaler Gehr zwei Folgeaufträge im Kanton Zug, mit denen er eine Art Wiedergutmachung erhielt. 1962 konnte Gehr für das Hotel Ochsen ein Wandbild sowie Glasfenster realisieren. Und 1971 bekam Gehr den Auftrag, die St.- Johannes-Kirche im Hertiquartier mit Wandbildern zu schmücken: Der mehrteilige Zyklus zur Dreifaltigkeit ist abstrakter gehalten als die Wandbilder in Oberwil. Auf jeden Fall konnte Gehr die Arbeiten im Hotel Ochsen wie in der St.-Johannes-Kirche ohne Opposition oder Skandale zu Ende bringen. (Text von Michael von Orsouw)