Quantensprung für Baar

Brauchtum & Geschichte

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Der Ort mit der ersten Grossindustrie im Kanton Zug musste bis 1897 auf seinen Eisenbahnanschluss warten. Und setzte den Bahnhof weitab von der Spinnerei und dem Industriegebiet von Baar.

Baar – Baar musste lange warten und war sich vielleicht gerade deshalb noch sehr lange bewusst, wie wichtig der Eisenbahnanschluss war – als einzige Gemeinde feierte die zweitgrösste Zuger Gemeinde 1997 das 100-Jahr-Jubiläum.

Dabei waren die Linienführung auf Baarer Boden und der Standort der «Bahnhofsanlage» Anfang der 1890er-Jahre heftig umstritten. Dieser Standort wurde wesentlich vom Ausgang des Streites um die Situierung des Bahnhofes Zug bestimmt.

Woher des Weges?

Als am 20. September 1875 die linksufrige Zürichseebahn (Zürich–Thalweil–Ziegelbrücke) in Betrieb genommen wurde, sah die Welt auch für die Baarer noch rosig aus. Der konzessionierte Abzweiger nach Zug wurde in der Botschaft beschrieben: «Von der Station Thalweil, welche beim Bau der linksufrigen Zürichseebahn bereits mit Rücksicht auf die Abzweigung nach Zug in einer Höhe erstellt worden sei, welche gestatte, mit 12°/oo Steigung das Sihlthal in der Gegend des untern Sihlwald beim Forsthaus zu erreichen, steigt die Linie mit der angegebenen Steigung an der Lehne empor, um dann oberhalb Oberrieden rechts abzubiegen und mittelst eines 1250 m. langen Tunnels den zwischen dem Zürichsee und dem Sihlthal befindlichen Höhenzug zu durchbrechen.»

Bekanntlich fiel diese Abzweigung aber der grossen Eisenbahnkrise 1875-1879 zum Opfer.

Als am 25.6.1890 die Bundesversammlung den Bau der Moratoriumslinie Thalweil–Zug beschlossen hatte, machte sich die Bauherrin Nordostbahn (NOB) an die Arbeit. Als Erstes erwirkte sie beim Zuger Regierungsrat den Verzicht auf den Pferdebahnartikel im Vertrag von 1862!

Albistunnel statt Kehrschleife ...

Im Dezember 1890 legte die NOB drei Varianten vor, zwei mit einem Albistunnel und eine via Walterswil und Kehrschleife zwischen Blickensdorf und Zimbel. Die NOB baute prinzipiell mit maximal 12 Promille Steigung, um so die Leistungsfähigkeit und damit den Kaufpreis der Lokomotiven beschränken zu können. Zum Vergleich: Am Gotthard wurde mit maximal 27 Promille gefahren.

Es erstaunte damals, dass die NOB den Albistunnel in Erwägung zog, denn er war deutlich teurer. Die eingesparten 5 Kilometer fielen wohl ins Gewicht. An seiner Sitzung vom 21. Januar 1891 gab der Zuger Regierungsrat in seiner Vernehmlassung die Richtung vor, indem er den Albistunnel gegenüber der Linienführung über Sihlbrücke und den sofortigen Baubeginn zumindest des Tunnels befürwortete.

Allerdings mit einer Bedingung: «Die Versetzung der Station Sihlbrüke in die Steinmatte (Sihlwald) soll für die Berggemeinden des Kts. Zug, welche die Station Sihlbrüke nach früherm Projekt mit Vortheil benutzt hätten, ein Ersatz geboten werden durch eine für ihre Verbindungsstrassen günstige Plazirung der Station Baar, was durch die geplante Erstellung derselben auf der östlichen Seite des Dorfes Baar herbeizuführen wäre.» Und er mahnte an, es «sei an dem in der Konzession bestimmten Termin für Eröffnung der Bahn – 1. Jan. 1894 – festzuhalten.»

Beide Forderungen blieben schlussendlich unerfüllt.

... aber nur einspurig

Die Linie Thalweil–Zug war Bestandteil der Gotthardstrecke und zeitgleich wurde der Bau der weiterführenden Linie Zug–Goldau durch die Gotthardbahn beschlossen. Das rief das Initiativkomitee St.Gallen-Zug auf den Plan, welches am 27. Juni 1890 die Konzession für eine Bahnlinie St.Gallen–Zug mit Rickentunnel und offener Linienführung über Sihlbrücke nach Baar und Zug beantragte -ab Sihlbrücke in gemeinsamer Nutzung mit der NOB.

Nachdem sich die NOB endgültig für den Albistunnel ausgesprochen hatte, änderte das Initiativkomitee sein Projekt ab und sah einen Tunnel in Horgen von Wädenswil her vor. Dieser Tunnel mündete in die Steinmatt beim Nordportal des Albistunnels, und so hätte die Strecke Anschluss an den Tunnel bekommen. Sollte der Albistunnel nun zweispurig gebaut werden?

Am 7. März 1891 organisierte Bundesrat Welti eine Konferenz aller Involvierten, an der er seine Kompetenz für den Anschlussentscheid betonte und sich vorbehielt, dass der Albistunnel zweispurig auszuführen sei, wenn im Sihltal mehrere Linien darin einmünden würden. Inzwischen war nämlich auch noch der Bau der «alten Sihlthallinie» von Langnau a. Albis her durch die Sihlthalbahn-Gesellschaft wieder aktuell geworden.

Nun blockte die NOB. Die neue Strecke von Richterswil nach Horgen-Oberdorf hätte sie konkurriert. In seinem Rechenschaftsbericht 1891 schrieb der Zuger Regierungsrat über die NOB-Direktion, «sie würde gegenüber der Forderung zweispuriger Anlage des Tunnels auf die Konzession verzichten.» Im Klartext: die Linie Thalweil–Zug gar nicht bauen. Am 28. August 1891 beschliesst der Bundesrat daraufhin contre coeur den einspurigen Bau des Albistunnels.

Dass es der NOB ernst war, erhellt ihr Brief an die Gotthardbahn vom 23. September1891, in dem sie schreibt, dass nun weiter verhandelt werden könne, denn: «Bei den Verhandlungen über Beordnung der Verhältnisse zwischen ihrer Linie Zug-Goldau und der Nordostbahn, welche im verflossenen Frühjahr zwischen uns stattfanden, machten wir aufmerksam, dass der Bau der Linie Thalweil-Zug noch nicht als völlig sicher angesehen werden könne. Die Hindernisse, welche diesem Bau entgegenstanden, glauben wir nunmehr als definitiv beseitigt betrachten zu dürfen.»

Bahnhof Baar wo?

In Baar war man sich des Zusammenhanges mit der Standortentscheidung in Zug und des Konfliktes zwischen NOB und GB sehr wohl bewusst. Eine vom Einwohnerrat einberufene «grosse Versammlung» mit konsultativem Charakter im «Lindenhof»beschloss am 20. April 1892 nach Anhörung eines NOB-Vertreters (wahrscheinlich Oberingenieur Moser) einstimmig eine Resolution, wonach bei der Ostvariante der von der NOB vorgeschlagene Standort «Binzeggers Matte» zugestanden werde, «sollte aber, wie diess noch nichts weniger als ausgeschlossen, die West-Variante ausgeführt werden, dann sei für diesen Fall auf dem früheren Gemeindebeschluss (Salvematt-Projekt) unbedingt mit allen Mitteln zu beharren.»

Die Resolution nahm Bezug auf die Baarer Einwohnergemeindeversammlung vom 8. November 1891, welche dieselbe Position eingenommen hatte.

Damit war die Baarer Haltung festgelegt. Man wartete nun auf den Standortentscheid der Stadtzuger Bahnhofsanlage. Und beharrte auf seiner Position. Am 9. November 1892 ersuchte nämlich der NOB-Oberingenieur Moser die Direktion um Auflage der Pläne vom Portal des Albistunnels bis zum Unterfrühberg.

Er schrieb: «Auf der Westseite des Albistunnels ist der anschliessende Damm mit dem Ausbruchmaterial demnächst voll geschüttet, so dass in nächster Zeit für einen andern Ablagerungsplatz gesorgt werden muss. Das Tunnelausbruchmaterial ist in den grossen Damm vor Baar bestimmt, allein das Tracé ist daselbst noch streitig, resp. wird von der Lage des Bahnhofs in Zug bedingt.»

Am 1. 12. 1892 legte die NOB das Projekt Litti-Unterfrühberg auf. Der vom Bundesrat zur Vernehmlassung angefragte Einwohnerrat von Baar war nur unter der Bedingung einverstanden, dass der Bau dieses Abschnittes die Lage der Bahnhofsanlage Baar «nicht präjudizire». Was von der NOB zugesichert wurde.

Der zugehörige Situationsplan mit den beiden Varianten ab Unterfrühberg zeigte zudem, dass die NOB auf die zu Beginn favorisierte Routenführung ganz im Osten verzichtete. Damit war der Bahnhof nahe der Spinnerei («Rothe Trotte») vom Tisch.

Bundesrat Zemp entscheidet ...

1893 wurde zum Jahr der Entscheidungen. Als Bundesrat Emil Welti nach einer empfindlichen Abstimmungsniederlage Anfang Dezember 1891 zurücktrat, wurde sein Abstimmungswidersacher, der katholisch-konservative (KK) Entlebucher Anwalt Josef Zemp als erster KK am 17. Dezember 1891 zum Bundesrat gewählt.

Er musste das anspruchsvolle Post- und Eisenbahndepartement übernehmen. Nachdem ein Expertengutachten im April 1893 die Variante, wie wir sie heute kennen, vorgeschlagen hatte, lud Zemp auf den 10. Mai 1893 alle involvierten Parteien zu einer grossen Konferenz in den Zuger Kantonsratssaal ein und hörte sich nochmals alle Positionen an.

Auch der Einwohnerrat Baar war eingeladen, und seine Position wurde am 13. Mai 1893 im «Zuger Volksblatt» ausführlich rapportiert: Landamman Weber erklärte, «dass die Bahnhofanlage östlich der Neugasse, zwischen Mühlegasse und Neugasse zu liegen kommen sollte. Von diesem Standpunkte aus wird also Ausführung der Variante II der N.O.B. von der Gemeinde Baar gewünscht. Die Herren Gemeindspräsident, Reg.-Rat Dr. Herrmann und Einwohnerrat Binzegger bestätigten als Abordnung der Gemeinde Baar die Ausführungen des Vorredners. Hr. Direktor Aug. Henggeler als Vertreter der obern Ortschaft resp. der industriellen Etablissemente erklärte, dass sich letztere dieser Lösung, obgleich nicht allseitig entsprechend, fügen wollen. (...) Damit dürfte nun die ganze Angelegenheit sowohl für Zug als Baar abgeklärt sein und zwar in dem Sinne, dass die westlichen Anlagen, für Zug mit Halbinselbahnhof und für Baar nach Variante II der N.O.B. mit Bahnhof in der Salve-Matt als ziemlich sicher angenommen werden können. Herr Bundesrat Zemp versprach zum Schlusse, mit aller Beförderung dem h. Bundesrate Vorlage zu machen und dessen endgültige Entscheidung zu veranlassen.» Zemp hielt Wort und am 13. Juni 1893 entschied der Bundesrat zugunsten der Variante der Experten.

... Baar ist nicht zufrieden

In Baar entschied sich der Bundesrat für den von der NOB gewünschten Standort «Kirchmatte» und gegen die Gemeinde, welche den Bahnhof weiter nordöstlich in der Salve-Matte wollte.

Immerhin liess Zemp ein Türchen offen: §2 seines Entscheides lautete: «Für die Linie zwischen Albistunnel und Bahnhof Zug wird das Tracé nach Projekt II der N.O.B., also mit einer Station Baar westlich dieser Ortschaft grundsätzlich gutgeheissen. Bei Aufstellung des Bauprojektes ist über die von der Regierung von Zug und der Vertretung der Gemeinde Baar gewünschte Verschiebung der Station Baar nach Norden zwischen Neugasse und Mühlegasse eine Untersuchung vorzunehmen und das Resultat derselben dem Eisenbahndepartement vorzulegen.»

Baar machte Einsprache, aber die NOB hatte kein Gehör und der Bundesrat bewilligte am 12. August 1893 das Trassee mit der Bahnhofsanlage in der Kirchmatte. Einzig die Lage des Aufnahmsgebäudes und des Güterschuppens auf dem Areal liess er offen. Das Hin und Her wurde schliesslich durch den Beschluss der Baarer Einwohnergemeindeversammlung vom 21. Januar 1894 beendet. Zitat aus dem Versammlungsprotokoll: «In Sachen der Bahnhofanlage für Baar liegen zwei Projekt vor, beide von der Nordostbahn-Direktion vorgelegt. Sie unterscheiden sich wesentlich nur darin, dass der Personen-Bahnhof entweder nördlich oder südlich des Güterschuppens zu stehen kömmt. Die ganze Bahnhofanlage ist nämlich westlich vom Dorfe in die Kirchmatte planirt. Der Einwohnerrath theilt sich in eine Mehrheit & Minderheit.»

Dessen Mehrheit unterstützte die Lage des Güterschuppens gegen Osten, also näher Richtung Industrie und mit günstigerer Lage für Industriegleise. Der Spinnereidirektor Henggeler und sein Fürsprech Schiffmann-Hotz verlangten «auch Aufschluss (...), wie es gekommen, dass überhaupt die ganze Bahnhofanlage nicht östlich der Neugasse planirt sei. Indem Hr. Einwohnerrath Karl Franz Binzegger die ganze Eisenbahngeschichte von Anfang an durchgeht, weist er an Hand der Akten & Protokolle jeglichen Vorwurf zurück, als ob der Einwohnerrath irgend etwas unterlassen habe, um eine möglichst günstige Bahnhofanlage zu erzielen.»

Machtlose Spinnereibesitzer?

Schliesslich obsiegte der Minderheitsantrag mit Güterschuppen westlich, und so wurde die Bahnhofsanlage denn auch gebaut. Strittig blieb bis zum Schluss die Lage der Zufahrtsstrassen und der Kostenteiler für deren Erstellung. Es erstaunt, dass die Spinnerei nun zum dritten Mal quasi leer ausging – die Lage der Station Baar war für sie und das nördlich und nordwestlich von ihr gelegene kleine Industriegebiet die denkbar schlechteste Lösung. Und dies, obwohl die Spinnerei 100 000 Franken an die 600 000 Franken Finanzierungsbeitrag des Kantons Zug zahlte, die Gemeinde Baar aber nur 50 000.

Vielleicht spielte eine Rolle, dass zur selben Zeit die Spinnerei ein grosses Projekt im französischen Bellegarde realisierte und in Baar dringend mehr Leistung für die Fabrik brauchte, weswegen die Nutzung der Lorze für Stromerzeugung anstand. Und ob die politischen Verhältnisse eine Rolle spielten? Erst nachdem im März 1894 durch eine Verfassungsrevision im Kanton Zug der Proporz eingeführt wurde, kehrten bei den Novemberwahlen die Mehrheitsverhältnisse in der Baarer Exekutive zugunsten der Liberalen.

Damm statt grosser Viadukt

Neben dem damals zweitlängsten Tunnel der Schweiz hätte Baar auch noch den zweitgrössten Viadukt bekommen sollen. Grösser wäre nur noch der am 18. August 1894 eröffnete Aussersihler Viadukt in Zürich gewesen, ebenfalls erbaut von der Nordostbahn. Wäre, denn der Baugrund war ungeeignet.

Oder in den nüchternen Worten des NOB-Oberingenieurs Züblin: «Als interessantere Baute, infolge ungünstiger Gründungsverhältnisse, ist der Baarer Viadukt zu erwähnen, der zuerst auf grosse Länge vorgesehen, wegen den ungünstigen Pfeilerfundationen auf ein Minimum reduziert, d. h. nur soweit es für das Hochwasser der Lorze und den Weg in der sogen. Kutzelen nötig war, ausgeführt wurde, während das früher projektierte, dazwischenliegende Viaduktstück, durch einen Damm ersetzt worden ist. (...) Schlamm, Sand, Torf mit eingelagerten Baumstämmen, feiner, sandiger und weicher Letten wechselten mit Kiesschichten von geringer Mächtigkeit und lieferten den Beweis, dass das alte Seebecken des Zugersees früher bis an den Fuss des Albis, oberhalb Baar, gereicht haben muss, während die gefundenen, dünnen Kiesschichten von einzelnen Ablagerungen der ihr Bett häufig wechselnden Lorze, herrühren müssen.»

Fester Grund kam erst in 12 Meter Tiefe, und gemäss Züblin war es «selbstverständlich, dass eine Fundierung der Viaduktpfeiler auf solche Tiefe enorme Kosten verursacht hätte und man entschloss sich daher, der teuren Pfählung wegen, den Viadukt auf ein Minimum zu reduzieren.»

Am 4. März 1896 vermeldete der Regierungsrat, dass es keine Einwendungen «gegen das von der N.-O.-B. vorgelegte Projekt» gebe, die Strecke konnte gebaut werden.

Ende gut, alles gut?

Nicht ganz. Zwar wurde die Einweihung der Strecke am 31. Mai 1897 auch in Baar gebührend gefeiert, aber so richtig zufrieden waren nicht alle. Es hielten zu wenig Züge in Baar. Der Winterfahrplan 1897 zeigt sechs Verbindungen nach Zürich, davon nur eine schnelle (14:20 Uhr ab, 15:00 Uhr Zürich an). Die übrigen «Bummler» benötigten zwischen 58 und 65 Minuten. Nach Zug–Luzern gab es ebenfalls sechs Verbindungen, darunter keine wirklich schnelle. Die Fahrten nach Luzern dauerten zwischen 50 und 70 Minuten.

Von Zug nach Zürich fuhren 10 Züge, nach Luzern sogar 11. Der Schnellzugshalt in Baar ist bis zum heutigen Tag ein Dauerbrenner geblieben. (Text von Martin Stuber)

Hinweis Martin Stuber forscht zur Geschichte der Eisenbahn mit den Schwerpunkten Eisenbahnkrise 1875–1879, Gotthardbahn und Eisenbahn im Kanton Zug. www.eisenbahngeschichte.ch