Die Krone der Menschen

Kunst & Baukultur

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Nicole Blattmann hat das Glück, eine der Kunstschaffenden in der Schweiz zu sein, die grösstenteils von ihrer Arbeit leben können. Und das, obwohl sie diesen Weg nie geplant hatte.

  • Nicole Blattmann in ihrem Atelier. (Bild: zvg)
    Nicole Blattmann in ihrem Atelier. (Bild: zvg)
  • Nicole Blattmann malt unter anderem grosse Portraits von geflüchteten Personen. (Bild: Nicole Blattmann)
    Nicole Blattmann malt unter anderem grosse Portraits von geflüchteten Personen. (Bild: Nicole Blattmann)
Zug (Kanton) – Dieser Text ist in der Januar / Februar-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Eigentlich war der Klopp nur als Geschenk an einen Freund gedacht. Eine Geburtstagskarte, auf die Nicole Blattmann den Liverpool-Trainer gezeichnet hatte, schlicht, weil der Beschenkte so sehr «Kloppo»-Fan ist. Dieser war nicht nur sehr entzückt, sondern auch überzeugt davon, dass Blattmanns Talent an die Öffentlichkeit gehört.
Auf Drängen ihres Kollegen hin schickte die gebürtige Oberägererin also im Herbst 2019 das Porträt nach Luzern, an die Redaktion des «Tschuttiheftli», welches eine geschmackvolle Alternative zur herkömmlichen Panini-Bilder-Sammlerei bietet. Mit dieser Einsendung geriet etwas ins Rollen, was Blattmanns Leben verändern sollte.

Da kam der Zeitdruck
Denn nicht nur der Klopp-Fan, sondern auch die Tschuttiheftli-Jury war entzückt und wählte die Sozialpädagogin als eine von 24 Künstler*innen aus ganz Europa aus, um die Tschuttiheftli-Ausgabe für die EM 2020 mitzugestalten. Beworben hatten sich 122. Als die Gewinner bekanntgegeben wurden, glaubte Blattmann zunächst gar nicht, dass wirklich sie gemeint war. «Ich war überzeugt, dass ein Irrtum vorliegt», erzählt die 37-Jährige. Doch nichts dergleichen.

Und plötzlich ging’s los: «Auf einmal stand ich unter riesigem Zeitdruck. Innert zwei Monaten musste ich 13 Porträts von Fussballern unterschiedlicher Nationen zeichnen. Und das, obwohl ich keine Ahnung hatte von Fussball. Ich musste die meisten Spieler erst ergoogeln.» Aus der EM 2020 wurde aufgrund von Corona zwar die EM 2021, das Heft erschien trotzdem. Blattmanns Kunst mittendrin.

Fussballer und schräge Vögel
Das Besondere an ihren Tschuttibildern: Zu jedem Fussballer malte sie Exemplare bedrohter Vogelarten. Der französische Spieler Lucas Hernández bekam den Schmutzgeier. Auf Frenkie de Jongs Kopf platzierte sie zwei kecke Sumpfschnepfen. «Bei der Auswahl der Vogelarten half mir die Vogelwarte Sempach sehr. Wo immer möglich, versuchte ich, den Charakter des Vogels mit dem Spieler abzugleichen», sagt die Zugerin, die heute im appenzellischen Trogen lebt.
«Schon als Jugendliche habe ich viel gezeichnet. Doch eine Kunsthochschule besuchte ich nie. Zwar hatte ich Lust darauf, Grafikerin zu werden, doch waren diese Lehrstellen schnell weg. «Etwas Richtiges», bei dem man zumindest etwas kreativ arbeiten konnte, war Coiffeuse. «Während ich also eine Coiffeur-Lehre machte, realisierte ich, dass ich ein gutes Händchen für Menschen habe.»
Ein Missverständnis brachte Blattmann in die Ostschweiz. «Ich wollte eigentlich in eine Stadt, nach Bern oder Zürich ziehen, und bewarb mich in Altstätten auf eine Stelle im Sozialbereich. Erst, als ich auf ein Bewerbungsgespräch eingeladen wurde, realisierte ich, dass es zwei fast gleichnamige Orte gibt und ich mich nicht in ­Zürich, sondern im Kanton St. Gallen beworben hatte.»
Sie ging zum Gespräch, bekam den Job. «Ich nahm ihn an, weil die Stelle toll war und die Menschen sehr nett», erzählt Blattmann. 13 Jahre lang arbeitete sie im Kanton St. Gallen mit Geflüchteten. Eine Arbeit, bei der ihr Zeichentalent nützlich wurde. «Oft brachten die Flüchtlinge als einzige Erinnerung an ihre Liebsten Familienfotos mit. Viele waren zerschlissen, nicht selten waren sie nass geworden, als die Menschen übers Meer gereist sind.»

Familien wiederherstellen
Mit Hilfe des Tablets begann Nicole Blattmann die Fotos zu rekonstruieren. «Das ist sehr gut angekommen. Wir konnten die Familie so quasi wiederherstellen. Wo man im Bild kaum mehr etwas erkennen konnte, zeichnete ich die Menschen unter Anweisung der Geflüchteten wieder ein.»

Seither geht es ziemlich ab
Nach dem Auftrag fürs Tschuttiheftli folgten Anfragen von Galerien, veganen Köchen, Privatpersonen. «Irgendwann ist der Komponist und Künstler Kolja Brand auf mich aufmerksam geworden. Er hat mich gepusht und mir Tricks beigebracht. Seither geht es ziemlich ab.»
In den letzten Jahren konzentrierte sich Blattmann darauf, grosse, realitätsnahe Porträts von Geflüchteten zu malen. Zwar sind auf deren Köpfen keine Vögel zu finden, doch auch diese Porträts verbindet ein spezifisches Merkmal. Die gelernte Coiffeuse legt nämlich besonderes Augenmerk auf die Haare der gemalten Personen.
Hier löst sich Blattmann von der Realität, schafft voluminöse, strukturierte Haarprachten, oft in Silber oder Gold. «Das Haar bildet – wenn man so will – die Krone jedes Menschen», erklärt sie. «Die Strukturen, die ich darin zeichne, stehen sinnbildlich für den Weg, den die Geflüchteten hinter sich haben, gleichzeitig aber auch für den Fluss des Lebens.»
Es ist ein Konzept, das funktioniert. Auf Instagram fliegen Blattmann die Herzen zu, aber auch im richtigen Leben ist ihre Kunst begehrt. Ihr Geheimnis? Sie überlegt kurz, sagt dann: «Ich glaube, ich hole die Menschen mit den Porträts insbesondere deshalb ab, da hinter diesen persönliche Geschichten stecken.» Es sind Geschichten, die sie während ihrer jahrelangen Arbeit mit den Geflüchteten erfahren habe. Sie ergänzt: «Es kam schon vor, dass die Leute beim Betrachten der Bilder weinen mussten.»

Bilder zu schnell wieder weg
Mittlerweile sieht sich Blattmann mit einem Luxusproblem konfrontiert. «Ich verkaufe meine Bilder beinah zu schnell. Gerade via Social Media läuft viel. Das ist sehr schön, aber insofern ein Problem, als viele Galerien ganze Bilder­serien ausstellen möchten.» Entsprechend verbringt Blattmann aktuell sehr viel Zeit im Atelier. Mehr als in ihrem Job als Sozialpädagogin. «Ich arbeite noch ein bis zwei Tage in der Woche in meinem bisherigen Beruf. Den grösseren Teil meines Lohnes verdiene ich heute mit der Kunst.»
Nicole Blattmann hat also viel um die Ohren. Auch zu Hause. Das Zellwegerhaus in Trogen, in dem die zweifache Mutter mit ihrem Mann und ihren Söhnen wohnt, ist voller Leben. Im grossen Gebäude lebt noch eine weitere Familie, ausserdem finden hier oft Geflüchtete eine vorübergehende Bleibe. «Mir gefällt dieses Lebendige, diese grosse Gesellschaft, die sich fast wie eine Riesen-WG anfühlt», sagt Blattmann. «Ganz still mag ich es nicht.»

(Text: Valeria Wieser)