Die Poesiepriesterin und ihr Leiden

Literatur & Gesellschaft, Brauchtum & Geschichte

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Sie war um 1900 eine der bekanntesten Schweizerinnen: Isabelle Kaiser (1866–1925), die «Starke Zuger Frau» und Literatin, die auf Französisch und auf Deutsch schrieb. Sie inszenierte sich als Gesamtkunstwerk und fand ein riesiges Publikum.

  • Isabelle Kaiser 1899 am Schreibtisch in Zug: Sie schuf ein beachtliches Oeuvre. (Bild Ermitage Beckenried/Ueli Blum)
    Isabelle Kaiser 1899 am Schreibtisch in Zug: Sie schuf ein beachtliches Oeuvre. (Bild Ermitage Beckenried/Ueli Blum)

Zug – Sie verstand sich als Einsiedlerin – dennoch erreichten ihre mehr als 30 Romane, Novellensammlungen und Gedichtbände ein immenses Publikum in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich. Denn Isabelle Kaiser schrieb zuerst auf Französisch, dann erst auf Deutsch. Das Buch «Vater unser…» erzielte 15 Auflagen, «Der wandernde See» 16 Auflagen und «Die Friedensucherin» sogar 27 Auflagen.

Sie war als Tochter eines Zugers und einer Nidwaldnerin in Genf aufgewachsen, sodass ihre Eltern mit ihr französisch sprachen. Schon im Alter von acht Jahren, so schrieb sie später selber, soll sie gewusst haben, was sie will: «Ich warf eine weisse Toga um, improvisierte einen Altar und erklärte, Priesterin werden zu wollen.» In der Schule interessierte sie sich ausschliesslich für den Literaturunterricht und verfolgte danach ihr Lebensziel: Priesterin der Poesie zu werden! Sie begann schon als Kind, Gedichte und Erzählungen zu verfassen.

Zug als das gelobte Land

Als sie dreizehn Jahre alt ist, zieht die Familie von Genf nach Zug. Die Kaisers bewohnen das herrschaftliche Haus von Isabelles Grossvater an der Artherstrasse (heute Nr. 20). Sie nennen die Liegenschaft «Villa Bethlehem», weil, wie Isabelle es formuliert, «sie uns ein Stück gelobten Landes wurde, das Paradies unserer Kindheit und unserer Jugend». In Zug, der Heimatstadt ihres Vaters Fernando, geht für die junge Frau eine neue Welt auf: «In Zug redete man eine Sprache, die ich nicht verstand.» Sie beginnt, deutsche Bücher zu lesen, «ohne deren Sinn zu erfassen». Aber das Wichtigste ereignet sich hier: Sie erlebt den Ausgangspunkt ihrer Dichtkunst am Ufer des Zugersees. Am See baut sie Schilfhäuser, erfindet fantastische Figuren mit imaginierten Geschichten, lauscht dem Wind und dem Wasser – «vom singenden Wellengange lernte sie die Schönheitsmasse der Poesie», mutmasst später Deutschprofessor Johann Rieser.

Isabelle ist eine ausgesprochene Frühberufene: Im Alter von 15 Jahren verfasst sie ihren ersten Roman. Als sie daraus vorliest, lacht sie eine ihrer Schwestern aus, aber der Bruder stärkt ihr den Rücken. Sie schickt das Manuskript einer Zeitschrift; der Redaktor antwortet: «Sie haben keine Ahnung von Verslehre, aber Sie sind eine Dichterin.» Isabelle Kaiser fühlt sich dadurch ermutigt und schreibt mit Inbrunst weiter. Ihre erste Novelle kann das Jungtalent in einer französischen Zeitschrift publizieren, und mit 18 Jahren gewinnt sie bei einem Literaturwettbewerb den ersten Preis für ihre Novelle «Gloria victis». Als 20-Jährige gibt sie schon die Gedichtsammlung «Ici bas» heraus. Sie ist im damaligen Literaturbetrieb eine ausgesprochene Schnellstarterin, eine Art literarisches Wunderkind.

Wallende Kleider, schwarze Schmachtlocken

Isabelle inszeniert sich fortan als Künstlerin und poetische Traumtänzerin: Sie reitet mit wallenden, langen, weissen Kleidern auf dem Pferd durch die Stadt Zug, was im Zug der Jahrhundertwende für grosses Aufsehen sorgt. Die höchst erfolgreiche junge Frau, die in internationalen Zeitschriften und Illustrierten literarische Kurzformen publizieren kann, empfängt ihre Gäste in einem schneeweissen Schleppgewand, das der griechischen Antike entstiegen scheint, dazu verteilt sie ihre rabenschwarzen Schmachtlocken wild über ihr Gesicht, mit dem sie Leid, Unglück und Ernsthaftigkeit darstellen will.

In der Tat muss sie innerhalb von kurzer Zeit viel Leid erfahren. Zuerst legt sie mit ihren Geschwistern im Villengarten einen kleinen Vogelfriedhof an. «Starb ein Kanarienvögelchen, so trugen wir es feierlich zur Begräbnisstätte.» Schon bald wird aus dem Spiel Ernst. Zuerst stirbt ihr 20-jähriger Bruder Iwan an Schwindsucht, dann entschläft ihr geliebter Vater Fernando als Opfer einer Epidemie, darauf scheidet ihr Grossvater Ferdinand Kaiser aus dem Leben, der bekannte Augenarzt und Ständerat, schliesslich verunglückt ihre Schwester Fatime als 23-jährige Braut bei einem Sturz aus dem Fenster. Isabelle Kaiser kommentiert diese schwer zu ertragende Kaskade von Todesfällen: «Da siechte ich hin, ins Herz getroffen.» War sie zuvor kränklich gewesen, so wird sie jetzt eine permanent Leidende. Sie erkrankt an Tuberkulose und erduldet immer wieder Krankheitsschübe, sie leidet an Neuralgie, also an Nervenschmerz, der damaligen Modekrankheit. Zudem durchlebt sie heftigen Liebesschmerz. Das Schreiben selber bezeichnet sie auch als unheilbare Krankheit, eine allerdings, die oft «zur Heilung von andern physischen Leiden» beiträgt. Wie eine echte Künstlerin, versucht sie ihr Leiden in Kunst zu transformieren: «Wenn ich nun mein Leben in seinen Höhen und Tiefen überblicke, so erkenne ich, dass das Leiden mich treulich vom Abgrund der Verzweiflung zum Berge der Läuterung emporführte. (…) Durch eigenes Leid drang ich zum Verständnis der Leiden der anderen (…): Das ist der goldene Niederschlag des Leidens.»

Dementsprechend voll leidender Seelen ist ihre Literatur, wobei die Protagonistinnen ihrer Prosa und Poesie stets Figuren sind, die der Schriftstellerin nahe sind. 1902 zieht sie von Zug nach Beckenried, in den Heimatort ihrer Mutter. Das Häuschen, das sie dort bewohnt, nennt sie ihrer programmatischen Ausrichtung entsprechend «Ermitage», also Einsiedelei. Sie verzichtet auf eine Heirat, weil sie quasi mit der Poesie verbunden sei. Dementsprechend produktiv ist Isabelle Kaiser.

Heute sind ihre Texte kaum mehr zu lesen; sie wirken pathetisch, schwülstig und überladen. Doch zu Lebzeiten von Isabelle Kaiser kommt ihre Literatur gut an. Sie profitiert von den Bemühungen der schweizerischen Frauenorganisationen, die Frauen sichtbarer zu machen, etwa mit dem ersten Frauenkongress 1896 in Genf. Insofern fallen Isabelle Kaisers Arbeiten auf fruchtbaren Boden, ohne dass sie selber Frauenrechtlerin ist oder sich politisch zeigt, auch nicht in einer literarisierten Form. Sie ist eben eher die Hohepriesterin der Poesie und die abgehobene Künstlerin als die handfeste Feministin. (Michael van Orsouw)

Hinweis
Für die Serie «Starke Zuger Frauen» stellt der Historiker und Schriftsteller Dr. Michael van Orsouw bemerkenswerte Frauen aus der Zuger Geschichte dar. In Folge 7, der letzten der Serie, geht es um eine durchsetzungskräftige Unternehmerin.