Vorurteile führen in den Abgrund

Theater & Tanz

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Eine meisterhaft gespielte Inszenierung von Max Frischs «Andorra» packte das meist junge Publikum im Casino Zug.

  • Barblin (Mia Lüscher) und Andri, gespielt von Antonio Ramón Luque, im Stück «Andorra», rechts mit Soldat Peider (Axel Julius Fündeling) (Bilder Stefan Kaiser)
    Barblin (Mia Lüscher) und Andri, gespielt von Antonio Ramón Luque, im Stück «Andorra», rechts mit Soldat Peider (Axel Julius Fündeling) (Bilder Stefan Kaiser)

Zug – Ist das der Warteraum eines Krankenhauses oder sogar der Irrenanstalt? Acht Menschen sitzen brav auf Stühlen, während sie auf ihren Einsatz warten. Sie sind so weiss gekleidet, wie das Zimmer gestrichen ist, in dem sie sich aufhalten. Doch schon die ersten Sätze von Barblin lassen Abgründe hinter den weissen Westen erahnen: «Was wäre, wenn wir zwei Leben hätten – erst ein Entwurf und dann die Reinschrift?»

Vor mehreren Schulklassen und dem üblichen, eher grauhaarigen Publikum zeigte das Theater Zürich am Donnerstag den Klassiker «Andorra» von Max Frisch. Die zugängliche Inszenierung des Regisseurs Mark Zurmühle zog die mehrheitlich jungen Zuschauer von Anfang in seinen Bann – sogar der Presse-Fotograf blieb bis zum Schluss, um sich keine Einstellung entgehen zu lassen.

Schweizerdeutsche «True Crime» als Einspieler

Obwohl sich auf der Bühne ausser einer kleinen Jukebox und dem Wasserspender, der später in der aufgeheizten Stimmung öfters aufgesucht wird, keinerlei Requisiten befinden, füllen die Schauspielerinnen und Schauspieler sie mit ihren emotionalen Dialogen bis zum Rand aus. Der Text ist gespickt mit Zitaten, die hängen bleiben: «Das Böse. Alle haben es in sich, keiner will es haben, und wo soll das hin? In die Luft?»

Fragmentarisch spielen die Figuren einzelne Szenen nach, welche Eleonore Bircher (Bühne) in unterschiedlich farbiges Licht tauchen lässt. Zwischenzeitlich wird der Warteraum wortwörtlich zur Projektionsfläche, als in eingespielten Videos über den Hintergrund des Todes von Barblins Mutter spekuliert wird.

Tatort: Die Schweiz. Dabei entlocken die schweizerdeutschen Aussagen des Volkes – vom nüchternen Kriminalkommissar mit Wikingerbart bis zur aufgebrachten Hundehalterin, welche die Leiche findet – beim Publikum inmitten des bleischweren Stoffes einige erleichternde Lacher. Verpackt sind die Interviews originell als Teil einer True-Crime-Sendung.

Im weissen Warteraum, inspiriert durch die Anfangsszene, in der Barblin «weisselt» – eine Wand in der Farbe Weiss tüncht –, gibt es ausser einem heiteren Tanz zu «la vida es una tombola» nur brutal ernste Diskussionen über das zeitlose Thema des kaum fassbaren «Wir» und des offenbar klar definierten «Andere». In den meisterhaft gespielten Dialogen zeigt sich, dass die Figuren von Max Frisch bis heute mühelos überlebt haben. Man könnte wohl im gewalttätigen Soldaten toxische Männlichkeit sehen, im rechthaberischen Doktor den alten weissen Mann und in der viel Redezeit einnehmenden Barblin, die gegen Ende sogar zur Superheldin aufsteigt und sich als einzige traut, ihr wahres Ich zu zeigen, einen neuen Feminismus.

Einzig die wichtige Stellung des Paters, der Andri ungewollt ins Verderben führt, und überhaupt die vielen christlichen Anspielungen wirken etwas aus der Zeit gefallen – beim jüngeren Publikum zumindest.

Es ist nützlich, einen Sündenbock zu haben

Neben dem sympathischen Andri und der starken Barblin ist die Rolle des Vaters und Lehrers vielleicht die Elementarste. Sie verdeutlicht, wie nützlich ein Sündenbock sein kann: Indem er seinen unehelichen Sohn als Juden ausgibt, kaschiert er öffentlich seinen Seitensprung und gibt sich gleichzeitig als Held aus, der das Kind vor dem bösen Nachbarvolk gerettet habe. Schlussendlich scheitert der Aufklärer beim Versuch, seinem Sohn die Wahrheit zu verkünden – zumal dieser die Lüge bereits inkarniert hat.

Aufwühlende, aber erfrischende Inszenierung

Diese Inszenierung von «Andorra» ist aufwühlend und nimmt klar Stellung. Auch wenn sie in ihrem Schwarz-Weiss-Spektrum kaum Grautöne zulässt, ist genaue diese klare Haltung in einer Zeit, in der das zeitgenössische Theater unendlich viele Anschlusspunkte und Deutungen zulässt, erfrischend. (Text von Fabian Gubser)