Ein Einblick in das Leben eines gehörlosen Mädchens

Dies & Das, Brauchtum & Geschichte

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Die taubstumme Anna Maria Rust (1828 bis 1852) genoss in Einsiedeln eine Schulbildung. In einem Tagebuch hielt sie ihre Erlebnisse fest.

Walchwil – Wie lebte ein gehörloses Mädchen, das beide Eltern verloren hat, vor rund 180 Jahren? Aufschluss über diese Frage gibt das Tagebuch der Walchwilerin Anna Maria Rust (1828 bis 1852). Am 19. März 1828 erblickte Anna Maria Elisabetha das Licht der Welt. Sie reagierte weder auf Geräusche noch auf Lärm und begann auch nicht zu sprechen. Ihre Eltern, die Müllerstochter Anna Maria Franziska Roth, aufgewachsen bei der Einmündung des Lotenbachs in den Zugersee, und Johann Bernard Rust vom «oberen Horbach» auf dem Walchwilerberg, verstarben früh. Die Vollwaise fand schliesslich ein neues Zuhause in der Familie ihrer Patin und Tante väterlicherseits, Anna Elisabeth Rust, die mit Josef Caspar Anton Rust verheiratet war und «im Secki» in Walchwil wohnte. Das Mädchen hatte Glück im Unglück, wie die Überlieferungen zeigen. Sie endete weder als Verdingkind noch als Bettlerin oder im Waisenhaus. Im Gegenteil: In Einsiedeln genoss das taubstumme Kind eine Schulbildung, die wohl vielen anderen Mädchen und Buben zu dieser Zeit verwehrt blieb.

Im Jahr 1816 wurde Beat Josef Hürlimann Pfarrer in Walchwil. Dass die Kirche sich darum bemühte, das gehörlose Mädchen zu integrieren, zeigt das Firmbuch aus dem Jahr 1838. Der Pfarrer hatte auch die zehnjährige Maria Rust – mit dem Vermerk «taubstumm» – eingetragen. Ihm ist es wohl auch zu verdanken, dass Maria Rust später im Privatinstitut von Jakob Anton Weidmann in Einsiedeln unterrichtet wurde. Der Landschreiber und Gastwirt aus dem Schwyzer Klosterdorf war selber Vater einer gehörlosen Tochter. Er nahm 1828 in seinem Gasthaus Steinbock vier gehörlose Kinder auf und unterrichtete sie. Maria Rust begann wahrscheinlich im Jahr 1839 ihre Ausbildung im Institut.

In ihrem «Tagbuch der braven, fleissigen Maria Rust von Walchwil» schrieb die Schülerin über Alltagserlebnisse aus Schule, Dorf und Gastfamilie. So beschrieb sie, wie sie gemeinsam mit einem anderen Mädchen Schlitten fahren war, sie erzählt von einem kranken Huhn, wie sie einen blauen Strumpf strickte oder beim Heuen half und nach getaner Arbeit mit Most, Brot und Käse belohnt wurde. Sie erinnerte sich zudem an einen Brand im Lothenbach, der sich vor ihrer Einsiedler Zeit ereignet hatte: «Da sah ich einige Männer mit einer Feuerspritze gegen das Haus meines Vetters kommen. Ich hatte eine grosse Furcht, weil das Haus brannte. Man spritzte Wasser aus der Feuerspritze auf das Feuer; allein man konnte das Feuer nicht löschen. Die zwei Schwestern meines Vetters weinten sehr, weil das Haus brannte. Ich weinte auch.»

Die letzten Aufzeichnungen enden abrupt

Maria Rust war in Einsiedeln gut integriert. Weidmanns Schüler wurden im Klosterdorf ganz selbstverständlich akzeptiert. Die Zeit am Institut endete für das Mädchen aus Walchwil im Jahr 1844, sie kehrte daraufhin in ihren Heimatort zurück. Die letzten Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch von Ende November 1846 brechen abrupt mitten in einem Satz ab. Weshalb, ist nicht bekannt. Die gehörlose junge Frau starb früh: am 19. Mai 1852, im Alter von erst 24 Jahren. (Rahel Hug)

Hinweis
Die neunteilige Serie «Zeitreise» beleuchtet Persönlichkeiten, die im Kanton Zug oder daraus stammend Geschichte schrieben. Im 4. Teil lesen Sie heute über die Walchwilerin Anna Maria Rust. Quelle: 23 Lebensgeschichten, herausgegeben vom Regierungsrat des Kantons Zug, 1998.