Die Frequenz von Freunden
Dies & Das, Musik
Der Geiger Daniel Avi Schneider spielt heute bei Bukahara, die sich selbst als unbekannteste bekannte Band Deutschlands bezeichnet. Sein musikalischer Weg jedoch begann in der Zuger Kulturszene.
Zug – Dieser Artikel erschien in der Mai-Ausgabe 2025. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.
Sogar das Schweizer Fernsehen berichtete: In Zug wurde ein Haus besetzt. Das alte Zeughaus an der Baarerstrasse stand leer, die Wohnungsnot in Zug war gross, schon damals, 2002. Die Besetzer*innen wollten auf die unleistbaren Mieten aufmerksam machen und den fehlenden Kulturraum. Im Fernsehen sprach die Moderatorin von Privateigentum und Gesetzen, Hans-Peter Uster, der Zuger Landammann sagte, es sei kompliziert. Die Nachbarn schrieben Leserbriefe, beschwerten sich über den Lärm. Einer der lauten jungen Menschen war Avi Schneider. Heute spielt er Geige bei der Band Bukahara, die er mitbegründete und deren Musik monatlich über eine halbe Million Menschen streamen. Eine Band, die zuletzt medial öfters präsent war, da hier mit Avi und Ahmed zwei Freunde gemeinsam Musik machen – einer mit jüdischen Wurzeln und einer, der in Palästina aufgewachsen ist.
Ein Raum, sich auszuprobieren
Doch zurück zur kurzen Zeit der Zeughaus-Besetzung im Jahr 2002. Hier entstand eine Szene von kreativen, offenen Menschen in Zug. Es gab Theater, Diskussionen, Konzerte. Ein kurzes, kleines Vakuum im überhitzten Immobilienmarkt. Es gab Raum für Menschen, frei von vordefinierten Erwartungen. Daniel Avi Schneider war da noch sehr jung, gerade mal dreizehn Jahre alt, als sich dieser Raum öffnete. Nicht als Besetzer, aber als häufiger Gast kam er in einen Kreis von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hinein, die offen waren, anders lebten und leben wollten. Gemeinsam machten sie Musik, improvisierten, setzten ihre eigenen Einflüsse gemeinsam neu zusammen. Zwar war natürlich Punk ein wichtiges Genre. Aber wenn er als Geiger mitimprovisierte und es mal nach Volksliedern klang, mal nach Jazz, dann waren die Leute im Zeughaus neugierig, manche begeistert.
Frei von Noten
Avi Schneiders Familie hatte schon immer viel Musik gemacht. Seine Eltern lernten sich auf einem Chor-Festival kennen, Avis Vater ermutigte ihn, seinem Gehör zu vertrauen. «Darauf war ich besonders stolz», sagt Avi Schneider noch heute. Sich von Noten freizumachen, öffnet das Musikmachen für die Gruppe. So kann im Moment etwas Gemeinsames entstehen. Im Elternhaus von Avi lag das Kinderbuch «Josa und die Zauberfidel» herum. Ein Junge, der mit dem Spiel seiner Geige den Mond aufgehen lassen konnte. Kann Musik wirklich so die Welt beeinflussen? Oder ist das nur Zauberei? Er bekam klassischen Unterricht, zu Hause spielten sie Volkslieder. Nicht zur Förderung, einfach als gemeinsamer Ausdruck. Es schien selbstverständlich. «Erst später bemerkte ich, dass es so nicht bei allen war.» Und wenn man an der Schwelle zur Pubertät bemerkt, etwas Besonderes zu können, passiert es manchmal, dass es zu einem Teil der Identität wird. Also gründete er als Teenager Bands, spielte Saxofon, sang, improvisierte mit Freunden am See. Das Zeughaus wurde irgendwann wieder geräumt, aber die Wirkung des Vakuums blieb.
Weg aus Neugier
«Ich hatte keine klare Vision. Musik erfüllte mich einfach sehr. Ich identifizierte mich damit, Musik zu machen», sagt Avi Schneider. In den letzten Jahren der Kanti überlegte er sich, wie wohl alle, wohin er nun gehen sollte. Dabei war die Entscheidung längst gefallen. Musik nahm einen so grossen Teil seines Lebens ein, es würde sich sinnlos anfühlen, es nicht zu verfolgen. «Ich hatte kein richtiges Ziel, keine Karriereambitionen. Musik war mein Ausdruck und ich wollte ihn in meinem Leben haben», sagt er. An die Jazzschule in Köln zu gehen, war also weniger Plan, eher eine Konsequenz. «Es war kein Ego-Ding, was soll aus mir werden. Einfach die Möglichkeit, weiterhin mit anderen zusammen Musik zu machen.» Und Köln? «Aus Neugier.» Im Umkreis von Jazzschulen entsteht in den besten Fällen ein Biotop von offenen, kreativen Menschen. Alle leben in der Nachbarschaft, alle wollen Musik machen, rund um den Ebertplatz in Köln wohnten sie. In den ersten Monaten des Studiums fanden sich so nach und nach verschiedene Leute in Avis WG-Zimmer. Sie sassen am Boden im Kreis, wie in Zug am See, und improvisierten. «Das war wahnsinnig aufregend, weil alle so talentiert waren», erinnert er sich.
Schnaps und Volkssongs
Einige kamen ein paar Mal vorbei, andere blieben und wurden zu einem Freundeskreis. Soufian Zoghlami beispielsweise hatte schon ein Jahrgang vorher das Studium begonnen. Er wohnte in der Nachbarschaft, schrieb eigene Songs, die nach und nach in das Repertoire aller einflossen, die mitimprovisierten. Oder Ahmed Eid, der ein Jahr später sein Studium anfing und schnell ein Teil der Gruppe wurde, die sich aus den Jam Sessions in WGs und Parks herauskristallisierte. Etwas später kam Max von Einem dazu, der von einer anderen Jazzschule nach Köln wechselte.
Sie trafen sich zum Schnapstrinken, dabei ein wenig Musik machen, Quatsch reden, was man so tut. Und wenn es die Gelegenheit gab, dann spielten sie natürlich auch. Was grad auf den Fingern lag, ein wenig Klezmer, palästinensische Volkssongs, ein wenig Balkanvibes, etwas marokkanische Einflüsse. Ohne es zu merken, ganz natürlich, ganz organisch, wuchsen sie zusammen, erst zu Freunden, dann zur Band. Sie spielten in Parks, in der Fussgängerzone, an WG-Partys. Die Leute tanzten und sangen mit. Und allmählich wurde aus den Songs ein Set und aus den tanzenden Leuten rund um die Freunde ein Konzert. Die ersten richtigen Konzerte spielten sie in Avi Schneiders Heimat. Das «Rock the Docks» in Zug fand 2008 gerade das erste Mal statt. Ein Gratis-Festival, organisiert von jungen Menschen, die Bands aus ihrem Freundeskreis einem grösseren Publikum zeigen wollten. Bei der Anmeldung mussten sie einen Namen angeben: «Bukahara». Was das heisst? «Nichts, es klingt einfach gut.»
Gutgelaunte Punks
Nach dem ersten Konzert in Zug folgten viele weitere. «Wir haben nie wirklich Werbung gemacht oder Locations kontaktiert, wir haben einfach immer überall gespielt», sagt Avi Schneider. Rund um Köln, dann etwas weiter weg, spontane Strassenmusik, private Feste, ausufernde Feiern von Freunden, dann Konzerte in Kulturräumen in ganz Deutschland. Aus der Zeit gibt es eine Videoaufnahme, in der die vier durch ein Einkaufszentrum blödeln, singen und spielen. Freundliche, gutgelaunte Punks, die nach Folk und Balkan klingen. Die Securitys lachten mit. «Dieses Kleinod hätte ein Video werden sollen, das schlummert noch irgendwo auf meiner Festplatte», sagt Avi Schneider. Ein paar Jahre später spielten sie nochmals am Rock the Docks. In den Jahren zuvor war das Festival am Zuger See zuverlässig verregnet worden. In dem Jahr, 2013, war es ein warmes, trockenes Spätsommerwochenende. Der Geruch von zertanztem Gras lag in der Abendluft. Bukahara spielte und die Festivalbesucher*innen liebten es. Ein Gast aus Buonas sagte damals gegenüber Zug Kultur, Bukahara sei sein Highlight gewesen, bis zuhinterst hätten die Leute getanzt. «Wir wuchsen ganz organisch. Wir hatten nie einen Durchbruch.» Keinen viralen Moment, keinen Überhit. Bukahara war so was wie der bekannteste Geheimtipp. Wer Bukahara kannte, ging ganz selbstverständlich davon aus, dass die Band niemandem sonst ein Begriff war. Aber fragte man eine zufällige Bekanntschaft, hörte man oft: «Ah klar, Bukahara, die haben doch erst zufällig an diesem kleinen Festival gespielt, aber eher so privat, glaube ich, die waren toll.» Es war die Verliebtheitsphase der Band. Und als Avi dann beschloss, nach Berlin zu ziehen, fürchteten sie sich ein wenig. Würde das alles auseinanderfallen? Köln–Berlin, ist die Distanz zu gross? «Doch wir haben das eigentlich nie als echtes Problem gesehen», sagt Avi Schneider. «Wir hatten keinen Druck, dass wir den Erfolg reiten mussten. Wir waren Freunde, wir machten Musik, wir würden auch Freunde bleiben. Auch wenn wir in anderen Städten wohnten, wir würden weiterhin Musik machen.» Und so kam es. Sie trafen sich regelmässig, meist in der Mitte, gut erreichbar für alle. Sie nahmen Alben auf, spielten Konzerte, blieben Freunde. Und fuhren zusammen in den Urlaub, mit Zelt, Rucksack und Instrument in den Balkan.
Studio mit Garten und Küche
Sie spielten auf den Strassen in Slowenien, Kroatien, Ungarn, Rumänien, nicht für Geld, aber für Applaus, gute Laune und offene Herzen. Sie wollten Menschen kennenlernen, das ist die nützlichere Währung, die Bukahara erst so weit gebracht hatte. Wohin genau, das sah man zum ersten Mal 2014 in Köln. Der Stadtgarten war ausverkauft, dreihundert Leute. «Zu diesem Zeitpunkt haben wir schon sechs Jahre lang Tag und Nacht zusammen gespielt.» Eigentlich konnte nichts passieren. Die dreihundert Leute im Stadtgarten, die kamen ihnen nicht vor wie Fans, denen man etwas schuldet. Eher wie ein ausufernder Freundeskreis, aufgebaut über die letzten Jahre. «Ich war trotzdem aufgeregt», sagt Avi Schneider.
Heute lebt er noch immer in Berlin. In der Nähe seiner Wohnung hat er seit kurzem ein Studio eingerichtet, ein echtes Fundstück im Berliner Wohnungsmarkt. Ein Platz für Freunde und Kreativität. «Mit Küche!», hebt Avi Schneider hervor. Und sogar mit Garten, um Kaffee zu trinken, zu reden und natürlich um spontan zu improvisieren, wenn aus dem Zusammensein etwas entsteht.
Text: Lionel Hausheer