Als «Emmanuelle» die Zuger erregte

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Heute ist er ein Klassiker, vor 40 Jahren sorgte der französische Erotikfilm aber für heisse Köpfe. In Zug musste der Kinobetreiber sogar vor Gericht.

  • Der Erotikfilm mit Sylvia Kristel (unten) sorgte in Zug für heftige Diskussionen: Im Februar 1977 gab es vor dem Kino Lux in Baar Proteste. (Bild PD/Archivbild)
    Der Erotikfilm mit Sylvia Kristel (unten) sorgte in Zug für heftige Diskussionen: Im Februar 1977 gab es vor dem Kino Lux in Baar Proteste. (Bild PD/Archivbild)

Zug – Sinnliche Liebeszenen, untermalt mit sanfter Musik, exotische Schauplätze und viel nackte Haut es war das Jahr 1974, als die Französin Emmanuelle die Kinoleinwand eroberte – mit ihren erotischen Abenteuern in Thailand. Die sexuelle Revolution der 68er-Bewegung hatte bereits vielerorts für fallende Tabus gesorgt – und doch: Der Erotikfilm mit der holländischen Schauspielerin Sylvia Kristel löste eine neue Protestwelle aus. «Emmanuelle» war keine Billigproduktion, bestimmt für die Sexkinos in den Rotlichtbezirken von Grossstädten, sondern eine künstlerisch inszenierte Romanverfilmung, die auch auf den grossen Kinoleinwänden gezeigt wurde – zumindest in Ländern, die gegenüber dieser Freizügigkeit eine liberale Haltung hatten. Allein in Paris lief «Emmanu­elle» über acht Jahre lang und lockte mehr als 3 Millionen Zuschauer in die Kinos.

Zuger Regierung drohte mit Anzeige

Im konservativen Zug der 1970er-Jahre herrschte da eine andere Stimmung. Bei der Betreiberin der Kinos Seehof, Gotthard und Lux, der Kino Hürlimann AG, wollte man den Erotikstreifen zwar 1975 ins Programm nehmen, doch nach einem scharfen Brief des Regierungsrates verzichtete man darauf. Am 15. Oktober 1975 schrieb der Justiz- und Polizeidirektor der Kino Hürlimann AG: «Obwohl wir den Film selbst nicht kennen, möchten wir Ihnen nahelegen, auf die Aufführung zu verzichten.» Weiter wies die Regierung darauf hin, dass bei einer Aufführung Strafanzeige erstattet werde. Vorerst siegte die Zensur, doch «Emmanuelle» wurde ein Jahr später erneut zum Thema der Sittenwächter. Denn damals gabs noch kein Heimvideo, geschweige denn DVD oder Youtube. Ein Film konnte Jahre nach der Lancierung nochmals die Kinosäle einer Stadt füllen. Als im Oktober 1976 Bruno Ulrich als Pächter die Zuger Kinos übernahm, liess er schon bald die hiesigen Sittenwächter erzittern. So gab der erfahrene Filmverleiher und Kinonarr kurz nach seinem Start bekannt, dass er «Emmanuelle» zeigen werde. «Der Streifen war der andere Sexfilm: ästhetisch und salonfähig. Man sagte damals Edel-Sexfilm», erinnert sich der heute 70-jährige Bruno Ulrich. Er war überzeugt: «Wenn der Streifen in Paris oder Zürich gezeigt werden darf, so muss dies auch in Zug möglich sein. Sonst verkommen wir zu Hinterwäldlern.»

Demonstration vor dem Kino

Vom 3. bis zum 6. Februar 1977 konnte man die lesbischen Liebesspiele von Emmanuelle im Kino Lux in Baar verfolgen. «Damit löste ich die Protestla­wine definitiv aus», erzählt Ulrich. Denn seine unbeugsame Art bescherte ihm nicht nur ein Strafverfahren «wegen Vorführung eines pornografischen Films», Kinobetreiber Ulrich wurde auch in anonymen Schreiben sowie Telefonanrufen beschimpft und bedroht. Gleichzeitig formierten sich die Zuger Sittenwächter: Zirka 50 Personen demonstrierten vor dem Baarer Kino Lux. Sie gaben mit Transparenten wie «Wir sind gegen Porno im Kanton Zug!» oder «Sexfilme verderben unsere Jugend!» ihr Missfallen kund. In der ganzen Schweiz berichteten Zeitungen darüber. Im «Zuger Tagblatt» stand: «Die Protestaktion verlief ruhig. Dem Vernehmen nach soll es sich bei den Teilnehmern um Leute aus Zug, Steinhausen, aber auch aus Schwyz und aus dem Kanton Uri gehandelt haben.» Der grösste Gegner des Films und Kopf der Protestaktion war ein 60-jähriger Lehrer aus Steinhausen. Er war es denn auch, der Bruno Ulrich vor den Richter zerrte. Von der Verhandlung berichtete auch der «Blick». Die Boulevardzeitung schrieb am 11. Februar 1978, dass der Steinhauser Lehrer «Emmanuelle» zuvor in einem Zürcher Kino visionierte und seither überzeugt sei, weitere Ausstrahlungen des Streifens verhindern zu müssen. «Der Sexfilm ist wie Gift. Das führt so weit, dass die Leute nicht mehr Militärdienst leisten wollen. Wir schauen nicht mehr länger zu, wie die Jugend versaut wird!», zitiert der «Blick» den Moralisten aus dem Kanton Zug.

Gericht kritisierte Sexszene

Trotz den harten Worten im Plädoyer des Steinhausers folgte das Gericht der Praxis der Bundesanwaltschaft in der Auslegung des Artikels 204 des Strafgesetzbuches («volksschädigende Veröffentlichungen») und entschied: «‹Emmanuelle› ist nach heutigem Empfinden zwar in einzelnen Szenen der Grenze des Tolerierbaren nahe, im Ganzen aber nicht unzüchtig.» Dass sich das Strafgericht genau mit dem Film und den Vorwürfen der Gegner auseinandersetzte, zeigt sich bei Durchsicht des Urteils vom Juni 1978. Darin heisst es: «Bei den Liebesszenen im Flugzeug kann von Geschmacklosigkeit in der Wahl der Örtlichkeiten gesprochen werden. Der Zuschauer wird aber die drangvoll fürchterliche Enge einer Flugzeugkabine bedenkend – eher von der artistischen Leistung verblüfft, als er in seinen sittlichen Empfindungen verletzt wird.» Der erfolglose Kläger hätte laut Staatsanwaltschaft die Gerichtskosten zahlen sollen, doch das Strafgericht sah davon ab, da es dem Lehrer glaubte, «dass er durch den Film in seinem Sittlichkeitsgefühl verletzt worden sei».

Weitere Filme lösten Proteste aus

Was denkt Bruno Ulrich, der mittlerweile die Kinoleitung seinem Sohn übergeben hat und das Leben «als aktiver Pensionär» geniesst, heute, mehr als 35 Jahre nach dem «Emmanuelle-Skandal», darüber? Ulrich lacht. Seine Meinung habe sich in all den Jahren nicht verändert: «Ich habe immer gesagt, dass es schade und völlig unnötig ist, wegen diesem eigentlich unwichtigen Film so ein Theater zu machen.» Die Publizität sei willkommene Gratiswerbung zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn in Zug gewesen. «Alle wussten, jetzt weht ein neuer Wind», sagt Ulrich. Dabei sei «Emmanuelle» in Zug kein kommerzieller Erfolg gewesen. «Wahrscheinlich hatten ihn schon viele Einheimische in anderen Städten gesehen.»

Für Bruno Ulrich sollte «Emmanuelle» nicht die letzte Erfahrung mit aufgebrachten Bürgern sowie den Zuger Behörden sein. Filme wie «Das Gespenst», «The Last Temptation of Christ» oder «Je vous salue, Marie» lösten ebenfalls heftige Proteste aus. Dabei hiess es, die Filme würden religiöse Gefühle verletzen. «Zum Teil war die Kritik der Gegner noch heftiger. Beim Film ‹The Last Temptation of Christ› sammelten Gläubige im Jahr 1988 sogar Unterschriften, um den Film zu verhindern», erzählt der langjährige Kinobetreiber. Ohne Erfolg eine Bevormundung des Zuger Kinopublikums habe er nicht akzeptieren wollen, sagt Ulrich: «Ich habe mich dem Widerstand nie gebeugt, weil ich die Filme wichtig fand für die öffentliche Meinungsbildung.» (Ernst Meier)