128 Jahre in Musik gefasst

Musik

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Ende März tritt das Orchester Cham-­Hünenberg mit einer nie gehörten musikalischen Komposition auf. Eine, die nicht nur fürs Ohr, sondern auch fürs Auge konzipiert ist.

  • 1914 Bereit für den Krieg: Die Zuger Soldaten werden für den Dienst während des Ersten Weltkriegs vereidigt – ein bewegender Moment auf dem Zuger Postplatz. (Quelle: Bibliothek Zug).
    1914 Bereit für den Krieg: Die Zuger Soldaten werden für den Dienst während des Ersten Weltkriegs vereidigt – ein bewegender Moment auf dem Zuger Postplatz. (Quelle: Bibliothek Zug).
  • 1959 Alt und neu auf dem Postplatz in Zug: mit dem Schönegg-Tram in der Mitte – und links mit dem modernen Bau der Zuger Kantonalbank. (Quelle: Archiv Zugerland Verkehrsbetriebe ZVB)
    1959 Alt und neu auf dem Postplatz in Zug: mit dem Schönegg-Tram in der Mitte – und links mit dem modernen Bau der Zuger Kantonalbank. (Quelle: Archiv Zugerland Verkehrsbetriebe ZVB)
Cham – Dieser Artikel ist in der März-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.
Es sind finstere Klänge, welche das Orchester Cham-Hünenberg gerade spielt. Da braut sich musikalisch etwas Fieses zusammen, die Blechbläser agieren als Vorboten eines Unglücks. Dann klingt es, als würden Truppen marschieren. Wie eine wahr gemachte Drohung setzen unheilvoll die StreicherInnen ein. Es tönt nach Krieg. Und genau das ist es, was die Komponistin Sandra Stadler im zweiten Satz ihres Werkes «Flashback – eine bebilderte Jubiläumskomposition» zu tun beabsichtigte.
Im Rahmen des 125-Jahr-Jubiläums schrieb die 33-Jährige ein Werk in fünf Sätzen. Jeder davon widerspiegelt eine Epoche. Das Orchester führt das Publikum durch die Vergangenheit und bis in die Gegenwart. Von der Unbeschwertheit der Belle Époque über die Kriegsjahre – verkörpert durch den unheilvoll klingenden zweiten Satz –, vom Wirtschaftsboom bis hin zur heutigen Zeit der Gegensätze, in der Schnelligkeit auf Langsamkeit trifft, Verdichtung auf Vereinsamung. Dies passiert nicht allein mit Musik. Das Werk wird untermalt von insgesamt 125 chronologisch geordneten Bildern, welche ihren Fokus allesamt auf dem Kanton Zug und teilweise auf Cham sowie Hünenberg im Spezifischen haben. Kuratiert wurden die Bilder von niemand Geringerem als dem hiesigen Historiker Michael von Orsouw.

Dieser hatte sich in der Vergangenheit schon eingehend mit der Geschichte Chams beschäftigt, schrieb mitunter ein Buch über die Ge­meinde. Verantwortlich fürs Zusammenspiel zwischen Bild und Live-Klang ist der Filmwissenschafter Oswald Iten. Die musikalische Leitung des Projekts hat Samuel Nyffeler.
Fürs Jubiläumswerk hat das ansonsten reine Streichorchester Perkussionisten und BläserInnen angeheuert. Viele von ihnen sind Studierende oder MusikerInnen, die bereits bei früheren Projekten mitgewirkt haben.

Es geht um mehr als Musik
Michèle Willimann, die Präsidentin des Orchesters Cham-Hünenberg, erklärt: «Rund alle drei Jahre führen wir ein Grossprojekt durch, bei dem es um mehr als rein um Musik geht.» So führte das Ensemble etwa mit «Alexis Zorbas» und «Circo fantastico» mehrere Stücke mit modernem Ballett auf, holte für «Heimwärts» einen Jodlerclub ins Boot und kombinierte bei «Däumelinchen» das auf Mundart erzählte Märchen mit Illustrationen und live gespielter Musik. Eins jedoch bleibe stets gleich, so Willimann: «Die Musik steht immer im Zentrum.»
Die stilistische Offenheit des Orchesters Cham-Hünenberg ist mittlerweile schon fast zu ihrem Markenzeichen geworden. Vielfältig ist jedoch auch das Orchester an sich. «Wir sind ein sehr durchmischtes Orchester. Unser jüngstes Mitglied ist knapp über 20 Jahre alt, das älteste ist bereits über 80», erzählt Michèle Willimann. Tatsächlich ist uns ein älterer Herr aufgefallen, der neben seiner Bratsche auch Gehstock und Keilkissen bei sich trägt.

Zuerst mal beschnuppern
Und dann gibt es jene alten Hasen, welche die  älfte der 125-jährigen Orchestergeschichte selbst miterlebt haben. Der «langjährige Tutti-Bratschist», wie sich Richard T. Meier nennt, ist seit über 60 Jahren Teil des Orchesters. Fürs Jubiläum hat er eine 114-seitige, aufwendig gestaltete Orchesterchronik erarbeitet.
Die Probe, bei der wir an diesem Februarabend anwesend sind, ist eine besondere. Es handelt sich um die erste sogenannte Tutti-Probe, also jene Probe, bei der alle MusikerInnen, also Blä­serInnen und StreicherInnen – zum ersten Mal aufeinandertreffen. Und sogar die Komponistin Sandra Stadler ist extra angereist. An diesem Abend geht es für die MusikerInnen zunächst einmal darum, einander zu beschnuppern, um sich dann langsam heranzutasten an ein grosses Ganzes. Noch ist alles ganz entspannt, denn noch dauert es einige Wochen bis zur Uraufführung des Werks, das eigentlich schon vor Jahren hätte aufgeführt werden sollen.
1895 wurde das Orchester Cham-Hünenberg gegründet. Entsprechend wäre das 125-Jahr-Jubiläumsprojekt auf Herbst 2020 geplant gewesen. «Als der drastische Lockdown im März 2020 erfolgte, hatten wir schon ein paar Monate geprobt», sagt Willimann. «Wir verschoben das Projekt zunächst um ein Jahr, und als sich dies ebenfalls als unsicher erwies, gleich auf 2023.»
Etwa 120 000 Franken werden insgesamt für das Projekt benötigt. Das Geld hatte man dank SponsorInnen und UnterstützerInnen bereits zusammen, als Corona kam. «Zum Glück blieben uns alle Institutionen und Personen erhalten, welche uns damals ihre Unterstützung zugesichert hatten. Niemand sprang während der Pandemie ab.»

Junge Filmkomponistin
Bewusst hatte sich das Orchester im Jahr 2018 für Sandra Stadler als Komponistin des Werks entschieden. «Wir hatten sie bereits für ein früheres Projekt angefragt und wussten, wie sie musikalisch arbeitet. Wichtig war uns ausserdem, eine junge Person zu engagieren.»
Stadler erzählt: «Ich bin Filmkomponistin. Dieses Projekt ist für mich insofern speziell, als die Musik hier mehr als nur Dienstleister ist. Man hat nur stille Bilder, dazu spielt die Musik. Das heisst, die Musik übernimmt die Dramaturgie des Ganzen.»
Und weiter: «Ich wusste, ich bin musikalisch zwar frei, musste mich jedoch an die Geschichte halten. Entsprechend bedurfte es einiger Recherchearbeit, um herauszufinden, was in diesen 125 Jahren wichtig war und was ich musi­kalisch wie umsetzen kann.» Für Stadler ist die Verschiebung des Jubiläumsprojekts beinahe noch spezieller als fürs Orchester. «Ich habe das Werk 2019 bereits abgegeben. Für mich wäre die Arbeit damit grösstenteils erledigt gewesen», erklärt sie. «Auch wenn ich natürlich auch danach, etwa für einzelne Anpassungen, zur Verfügung stand.» Nun sind zu den 125 Jahren, die Stadler zu einem Werk komponierte, drei weitere gekommen. Solche, die sich geschichtlich nur sehr schwer ausblenden lassen. Die Verantwortlichen beschlossen, dass auch diese drei Jahre Platz finden müssten im Werk, weshalb Stadler einen Zusatz komponierte.
Dieser wurde vor dem eigentlichen Schlussstück eingefügt und widerspiegelt die bewegten letzten Jahre. «Das war insofern eine Herausforderung, als dass seit dem Komponieren von Flashback ein paar Jahre vergangen sind und sich mein Schaffen in dieser Zeit verändert hat. Trotzdem war es eine schöne Möglichkeit, den Faden noch einmal aufzunehmen, nachdem ich etwas Distanz zum Stück gewinnen konnte.»

Der letzte Feinschliff
Ungefähr neun Monate probt das 52-köpfige Orchester für das aufwendige «Flashback»-Projekt, bevor dieses am 31. März sowie am 1. und 2.  April 2023 im Lorzensaal aufgeführt wird. Noch steht etwas Arbeit respektive Feinschliff bevor. Trotzdem: Die grösste Unsicherheit, nämlich jene, ob die Konzerte überhaupt stattfinden können, ist nun weg. Drei Jahre Verzögerung reicht den Verantwortlichen vollkommen.

(Text: Valeria Wieser)