Die Villette – Baudenkmal und Musentempel

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Vor gut 35 Jahren erlebte das «kleine Landhaus» – so benannt von seinem Erbauer – nach einer eineinhalbjährigen, stilechten Renovations- und Umbauphase seine «Wiederauferstehung». Grund genug, sich eingehend diesem Schmuckstück einer Villa zu widmen.

  •  Der von Planta-Saal besticht mit bewegten Formen und einer bemerkenswerten Tapetenverkleidung. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)
    Der von Planta-Saal besticht mit bewegten Formen und einer bemerkenswerten Tapetenverkleidung. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)
  • Der Zeugheer-Saal mit seinen strengen Formen und originalen Eichenmöbeln. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)
    Der Zeugheer-Saal mit seinen strengen Formen und originalen Eichenmöbeln. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)
  • Es ist das wohl schönste Landhaus am Zugersee: die Villa Villette in Cham. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)
    Es ist das wohl schönste Landhaus am Zugersee: die Villa Villette in Cham. Bilder: Stefan Kaiser (Cham, 3. 4. 2024)

Cham – Als die Gemeinde Cham die Parkliegenschaft und mit ihr die Villa 1981 von der Hammer AG für 3,6 Millionen Franken erwarb, bot Letztere einen desolaten Zustand. Entsprechend fand sie keinen potenten Mieter. Für die Wende zum Guten sorgte eine durch sämtliche zehn Kantonsräte dreier Fraktionen der Gemeinde unterzeichnete und erheblich erklärte Motion, aufgrund derer sich der Kanton an einer «Stiftung Villette Cham» beteiligte und für ⅔ der Auslagen aufkam, ⅓ bezahlte die Gemeinde. Nach Abzug der Beiträge von der Bausumme von 5,28 Millionen verblieben 3,51 Millionen zum «Dritteln». Seither finanzieren umgekehrt innerhalb der Stiftung «Cham» ⅔ und «Zug» ⅓ der anfallenden Reparatur-, Ergänzungs- und Unterhaltskosten.

Die Sanierungsarbeiten des arg heruntergekommenen Gebäudes mit eingreifenden Veränderungen gestalteten sich überaus anforderungsreich. Ausserdem galt es, der Villette deren einstmaliges Gepräge wieder zu verleihen, ohne aber unabdingbare Infrastrukturen zu verhindern. Fach- und Sachwissen, gepaart mit solider Arbeitsweise und «Liebe zum Detail» sowie ein fruchtbares Zusammenwirken mit der Baukommission unter Christoph Schmuki und der Denkmalpflege mit Josef Grünenfelder erbrachte ein respekterheischendes Glanzstück – unter der perfekten Ägide der einschlägig erprobten Spitzenkräfte Architekt Artur Schwerzmann und Bauleiter Gilbert Chapuis.

Die Villette wurde eingeweiht anlässlich eines rauschenden Festwochenendes vom 26. bis zum 28. August 1988 mit Ausstellung, Führungen, Konzerten, zahlreichen Beizlis und Produktionen diverser Observanz und einem krönenden Schluss-Feuerwerk. Seither geniesst die Bevölkerung eine seltene öffentliche Baukultur und atmet ein Stück Lebensgefühl.

Der Erbauer: Heinrich Schulthess-von Meiss

Der Erbauer, der Zürcher Bankier, Unternehmer, Mäzen und kunstsinnige Sammler Heinrich Schulthess-von Meiss (1813–1898) – als VR der Nordostbahn privilegiert – sicherte sich einen der schönsten Bauplätze am Zugersee, entstanden durch den Bau der Linie Zürich-Affoltern-Luzern und der dadurch ausgelösten Abtragung des Kirchenhügels. Deren Aushubmaterial stand für die Aufschüttung – einschliesslich des reizvollen Inselis – zur Disposition, sodass Schulthess bloss noch ein kleines Landstück hinzuerwerben musste.

Der Handelsherr besass bereits das Zürcher Stadtwohnhaus Lindengut am Hirschengraben, heute durch die ganze Verwaltung der «Pro Helvetia» belegt sowie einen altertümlichen Landsitz «Wäldli» in Hottingen, welchen er an Wochenenden bewohnte. Jetzt fehlte ihm ja nur noch eine Sommer-Residenz. Diese erschuf er sich eben mit dem herrschaftlichen Landhaus «Villette» mit weiten Räumen und Platz für seine zahlreichen Stiche, die später den Grundstock der Graphischen Sammlung der ETH Zürich bilden sollten!

Der Architekt: Leonhard Zeugheer

Hierzu engagierte er einen Architekten, welcher mit sensiblem Formempfinden Technik mit Schönheit und Komfort verwob, ferner eine Einheit zwischen Villa und Park, städtischer Wohnkultur und Landleben herbeiführte und mitunter der rein funktionalen Betrachtungsweise konsequent die ästhetische vorzog. Sein Name: Leonhard Zeugheer (1812-1866), einer der einfluss- und erfolgreichsten Architekten des 19. Jahrhunderts, der in gut 30 Jahren 150 Projekte öffentlicher wie privater Observanz verfasste, worunter auch 15 Villen, als zweitletzte die Villa Villette, 1864-1866.

Seine eigentliche Stärke spielte er im Planen und Ausschmücken herrschaftlicher Villen als Hausarchitekt für Kaufleute, Industrielle, Ärzte und Bankiers aus. Sie fielen der Schleifung von Stadtmauern und dem Ausgreifen der Stadträume zum Opfer, sodass gegenwärtig nur noch vier solcher Bauten existieren.

Seine Ausbildung absolvierte Zeugheer in Neuenburg, Paris und in Liverpool, wo er beim berühmten Architekten Thomas Rickman die Neugotik, den strengen Klassizismus sowie die Guss- und Schmiedeeisentechnik kennenlernte. Bei den nüchtern denkenden Zürchern kam er mit diesen Baustilen allerdings überhaupt nicht an, sodass er – dem Zeitgeschmack der Auftraggeber adäquat – seine Gebäude in der Schweiz zu reich differenzierten Baukörpern in vielfältigen, feinen, detailliert durchgestalteten Formen der Neurenaissance entwickelte.

Zweite Epoche: Dagobert Keiser junior

1898 starb Heinrich Schulthess’-von Meiss, nachdem seine Frau Berta schon 1883 verstorben war. Da die Ehe kinderlos blieb, erbte die Nichte Bertas, Anna Vogel-von Meiss (1858-1948) samt ihrem Gemahl, Heinrich Ulrich Carl Vogel-von Meiss (1850-1911), die Villette. Dessen Vater, Heinrich Ulrich Vogel-Saluzzi (1822-1898), hatte zu der Nagel- und Hammerschmiede noch die Papiermühle hinzugekauft und das Ganze zur «Papieri» geformt.

Die Villa erfuhr nun eine starke Veränderung ihres Charakters zufolge ihrer frischen Aufgabe als ganzjährig bewohnter Fabrikantensitz. Dazu fand die Eigentümerschaft glücklicherweise einen verständnisvollen und begabten Architekten, der mit der Bausubstanz schonungsvoll und mit grossem Respekt umging, trotzdem 1901-1907 die benötigten Neuerungen und Eingriffe mittels Um- und Anbauten vornehmen konnte und zugleich dafür sorgte, dass die Villette ihren überragenden Stellenwert beibehielt. Sein Name: Dagobert Keiser junior (1879-1959), der in die Fussstapfen seines Vaters trat und dessen Büro übernahm.

Keiser verlieh dem Gebäude durch die Vorziehung des Erdgeschosses und den Vorbau einer dreiachsigen, viersäuligen Veranda samt Treppengestaltung ein südliches Schwergewicht. Die Handschrift Keisers erkennt man auch deutlich im Vestibül mit den Zementbodenplatten, den massiven Eichenholzarbeiten und stilistischen Formgebungen an Täfer und Stuckdecke wie auch an der repräsentativen Treppe zur Beletage, die ein grandioses Gefühl des Aufgehobenseins vermittelt. Besuchende können nicht nur in den Sälen, sondern bereits in den beiden Teilen des Restaurants sehr schön diese Stilepochen der Neurenaissance und des Jugendstils erkennen, ja bewundern.

Die Villette gehörte dann noch bis 1948 Anna Vogel-von Meiss. Von der Erbengemeinschaft erwarb noch im nämlichen Jahre die Papierfabrik die Villa, welche 1974 an die Hammer AG überging, und liess sie durch Architekt Walter F. Wilhelm in zwei Wohnhälften teilen. Die Gemeinde hatte schon 1948 dank des Verkaufs des Schluechthofs den östlichen Teil des Villette-Parks (Gesamtgrösse 46 410 Quadratmeter).

Plastische Fassadengestaltung

Der Fassadenaufbau besteht aus einem abgefasten Sockel, einem mit Lagerfugen in Putz dekorierten Erdgeschoss, einem dreiteiligen Gurtgesims, einem Obergeschoss, einem Halbgeschoss unter der Dachtraufe, flachen Walmdächern mit durch reiche, in Ton geformte Konsolen getragenen Gesimsen.

Ein Optimum an plastischer Fassadengestaltung erreicht Zeugheer an der Westwand mit der Abwechslung zwischen dem doppelstöckigen, polygonal vorspringenden, reich profilierten Erker und dem zurückspringenden Balkonmotiv, wo gusseiserne Gitter und wohlgeformte Baluster seine Gewandtheit belegen. Über eine reizende sandsteinerne Binnengestaltung gebietet die Ostfassade mit zwei durch eine Sockelverkröpfung und ein reiches Gesimse zu einer gestalteten Einheit zusammengewachsenen Fenstern.

Kunstvolle Lebensräume

Im Innern findet sich der Zeugheer-Saal mit seinem gedämpften Architekturgefühl, den strengen Formen, den dunklen Tapeten, den schweren Original-Eichenmöbeln als dem Ort mit dem lebendigsten Raumgefühl der 1860er-Jahre. Er atmet den Geist betulich-würdiger Neurenaissance am spürbarsten. Eine handgedruckte englische Kollektion kam den ursprünglichen Tapeten am nächsten und unterstreicht den feierlichen Charakter des Saales dezent.

Andere Dimensionen wie Raumstimmungen erlebt man im lichterfüllten, luftigen von Planta-Saal mit schwungvollen, bewegten Formen, bunten Tapeten mit blumigen Mustern und feinen, zurückhaltenden Stukkaturen sowie im prunkvollen Nestlé-Saal mit seinen maserierten Stuckrahmungen, verziert in Papiermaché-Technik – und einer absolut einzigarten Tapete, die nämlich der Restaurator mittels Schablonierens um zusätzliche Blättchen-Ornamente bereicherte und obendrein noch vergoldete. (Text von Jürg Johner)