«Perfektion ist kein Konzept, das mich interessiert»

Literatur & Gesellschaft

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Am Dienstagabend trug Kim de l’Horizon in der Bibliothek Zug aus dem mehrfach prämierten «Blutbuch» vor – und richtete eine Bitte an den reichen Kanton.

  • Illustrer Besuch in der Stadtbibliothek Zug: Kim de l'Horizon las aus «Blutbuch». (Bild Maria Schmid)
    Illustrer Besuch in der Stadtbibliothek Zug: Kim de l'Horizon las aus «Blutbuch». (Bild Maria Schmid)

Zug – Es war ein Glücksfall. Hätte die Literarische Gesellschaft Zug mit ihrer Anfrage an Kim de l’Horizon zugewartet, wäre ein Besuch der frisch gekürten Schreibikone in der Bibliothek wohl kaum möglich gewesen. Nun, nach Erhalt des Deutschen und des Schweizer Buchpreises, ist de l’Horizon ein gefragter Mensch – und einer, der sein Wort hält. So kam es, dass die Bibliothek bei der Lesung von Dienstagabend bis auf den letzten Platz besetzt war.

Als «Autofabulation» beschreibt de l’Horizon das prämierte «Blutbuch». Eine Mischung aus persönlichen Erfahrungen und Fiktion, eine Autobiografie, die ab und an die Wege der Realität verlässt und sich in der bildlichen Schilderung von Gefühlen wiederfindet. De l’Horizon schreibt über und an «Grossmeer», die Grossmutter aus dem Bernischen. Schreibt über den eigenen Körper, der anfangs nichts war als eine Hülle, in die de l’Horizon nicht passen wollte, sich nicht wie der Junge fühlte, der die Erzählfigur aus «Grossmeers» Sicht zu sein hatte. Aber auch nicht als Mädchen, sondern als nichts von beidem und doch als alles.

Lesung beginnt mit einem «Bannkreis»

Wie de l’Horizon da sitzt, auf der kleinen errichteten Bühne zwischen Bücherregalen inmitten der Bibliothek, ist dieses Fluide, dieses nicht Zuordenbare mit dabei. De l’Horizon liest in perfektem Hochdeutsch, kein Hauch des Berner Dialekts dringt durch.

Im Hintergrund läuft eine Geräuschkulisse, gespielt von de l’Horizons Begleitung Pascale Schreibmüller. Der Auftritt war als «Ritual-Performance-Lesung» angepriesen worden. Was das genau bedeutet, wusste im Vornherein wohl kaum jemand der 120 Gäste, viele von ihnen über 50-jährig.

De l’Horizon eröffnet die Lesung mit einem Ritual, umrundet das Publikum ins Mikrofon summend, eine Kerze in der Hand. In der heutigen Gesellschaft gebe es nicht mehr vieles, das die Menschen bewusst gemeinsam machen, und so sollen alle Anwesenden eingebunden, zusammengeführt werden. Einen «Bannkreis» nennt de l’Horizon das.

Was für manche wie spiritueller Hokuspokus klingen dürfte, ist für andere ein kleiner Zauber. Dass man sich seinem unbekannten Sitznachbarn oder der Sitznachbarin nach dem Ritual ein bisschen näher fühlt, dem würde aber wohl kaum jemand widersprechen. Während der nächsten Stunde liest de l’Horizon. Und wer bereits vorab im Buch geschmökert hat, wird einige bereits bekannte Sätze hören, nun aber aus dem Munde der Person, die sie geschrieben hat. Dann ergibt manches, das vorher nicht greifbar war, vielleicht sogar wirr erschienen ist, plötzlich Sinn. Einen so grossen Sinn, dass die Erkenntnis voller Wucht einschlägt, einem beinahe vom Holzstuhl reisst. Die Lesung wird mit einem Lied beendet. Auf den letzten Klang aus de l’Horizons Kehle folgt ein Räuspern, dann die Worte: «Ich hatte gerade drei Wochen Pause. Aber Perfektion ist ja nicht ein Konzept, das mich interessiert.» Applaus brandet auf.

«Kapital bedeutet in dieser Gesellschaft Macht»

Ein Gespräch zu zweit. De l’Horizon ist freundlich, offen, das Lachen erreicht die Augen. Hier, im Wirtschaftskanton Zug, einem Ort, wo der von de l’Horizon oft scharf kritisierte Kapitalismus seine Blüten hocherhaben trägt, möchte de l’Horizon etwas zurücklassen.

Es ist eine Bitte, eine Botschaft, und sie geht so: «Kapital bedeutet in dieser Gesellschaft Macht, und wo das meiste Kapital ist, ist auch die meiste Verantwortung. Es ist wichtig, dass der Kanton diese Verantwortung auch hinsichtlich der in Zug liegenden oder durch Zug fliessenden Gelder aus Russland annimmt.» Es solle genauer hingeschaut und moralische Fragen sollten über die Vermehrung des Kapitals gestellt werden.

De l’Horizon sagt das nicht belehrend, betont die Worte bittend, als innigen Wunsch. Die Augen schweifen dabei über die Regale der Bibliothek Zug. In einem von ihnen steht das «Blutbuch». (Text von Kristina Gysi)