Ein Mädchenkopf von oben

Dies & Das

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Kazuki Nakaharas Wandzeichnung an der Gotthardstrasse in Zug hat einen leicht morbiden Hintergrund.

Zug – Wenn man es nicht weiss, übersieht man es wohl – oder nimmt es nicht als das wahr, was es ist: ein Kunstwerk im öffentlichen Raum. Aber man muss es einem nachsehen, denn wenig verleitet in diesem Stadtteil dazu, den Blick auf die umliegenden Gebäudefassaden zu fokussieren. Nüchtern, zweckmässig, urban ist hier alles rund um den Platz zwischen Metalli und Neustadtpassage.

Und doch lohnt sich etwas Aufmerksamkeit. Betrachtet man den Anbau über dem Café Bossard – an der Rückseite des wuchtigen Neustadtpassage-Gebäudes –, fällt einem an der knapp neun Meter hohen Sichtbetonwand eine Intervention auf: Ein grosser dunkler Kreis am oberen Ende, der fast die gesamte Wandbreite einnimmt, ist mit einer feinen Linie mit einem deutlich kleineren Kreis im unteren Teil der Wand verbunden und formt so ein symmetrisches Gebilde:

Entstanden ist die Wandmalerei im Juli 2013 im Vorfeld des städtischen Ausstellungsprojektes «Reactivate! Art in Public Space». Im Fokus dieses Projektes waren die zahlreichen bestehenden Kunstwerke im öffentlichen Raum der Stadt Zug. Sie sollten aktiv wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt werden. Der Urheber der Wandzeichnung beim Café Bossard war von der Zuger «Agentur für Künstleransiedlung» als Special Guest für die Monate Juli und August nach Zug geladen worden. Es war dies Kazuki Nakahara (*1980), ein japanischstämmiger Nachwuchskünstler aus Berlin, Sohn eines japanischen Kalligraphs und ausgebildet beim deutschen Zeichner und Druckgrafiker Hanns Schimansky. In Zug hat Nakahara seinerzeit erstmals die Gelegenheit erhalten, ein Werk im öffentlichen Raum umzusetzen.

Betrachtet man konzentriert den grossen, dunkelblau gefüllten Kreis am oberen Ende der Wand, erkennt man darin feine Strukturen: An zwei gegenüberliegenden Punkten am Kreisrand bündeln sich zahlreiche gleichmässige Linien, die jeweils in einem ausladenden Bogen über die Kreisfläche verlaufen, mit höchster Sorgfalt und Präzision ausgeführt. Es ist ein Motiv, welches sich wie ein roter Faden durch das Werk Nakaharas zieht. Kennt man seine Hintergünde nicht, würde man nie darauf kommen: Es basiert auf einer besonderen Beobachtung des Künstlers – derjenigen von sorgfältig gekämmten Mädchenköpfen, von oben betrachtet. Wo sich die Linien bündeln, muss man sich im Fortsatz Zöpfe vorstellen. An der Mittelachse – hier durch den senkrechten feinen Strich markiert – tönen die Linien den Scheitel der Frisur an; so wie fürsorgliche Mütter ihre Töchter fein für den Schulgang frisieren, eben aus der Vogelperspektive und als kreisrunder Ausschnitt wiedergegeben. Das kleine Kreisgebilde am unteren Ende der Wand ist in einem helleren blau gehalten und gefüllt mit einem Gittermuster, welches aus rechtwinklig angeordneten Linien besteht. Auch dieses Motiv findet sich im puristisch-minimalistischen Werk Nakaharas immer wieder.

Inspiriert von alter Bestattungskultur

Seine Wandzeichnung in Zug ist laut eigenen Aussagen eine Antwort auf die damals laufende Ausstellung «Geschmückt und bewaffnet – Frühmittelalterliche Grabfunde aus Baar» im Museum für Urgeschichte(n), wo die Bestattungskultur unserer Vorfahren Thema war. Dass man es gepflegt hat, den Frauen reichlich Schmuck mit ins Grab zu geben, hat der Künstler hier mit seiner eigenen Formensprache zu interpretieren gesucht. So ist seine Wandzeichnung dahingehend zu deuten, dass der «Mädchenkopf» die Verstorbene symbolisiert, der kleine Kreis mit dem gitterartigen Muster ein Schmuckstück als Grabbeigabe. Dass der «gemeine Vorbeikommende» kaum um den leicht morbiden Hintergrund des Kunstwerks an der Gebäudewand weiss, ist bestimmt kein Manko. Wichtiger ist, dass es als Kunst erkannt und wahrgenommen wird. Immerhin vermag es ein wenig, die von Strenge und Nüchternheit dominierte Architekturlandschaft hier rund um diesen Abschnitt der Gotthardstrasse zu durchbrechen. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut» gehen wir wöchentlich Fundstücken mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach.