Keine Beschäftigungstherapie

Kunst & Baukultur

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Das Tagesstrukturprogramm Kunstwerkstatt an der Lorze feiert ihr Zehnjähriges. Zu Besuch in einem Kunst­atelier, das Inklusion im Kunstschaffen konsequent fördert.

  • Im Kubeis gibts einiges zu erleben - zum Beispiel dieses «Miniabentür» des Künstlers deess. (Bild: PD)
    Im Kubeis gibts einiges zu erleben - zum Beispiel dieses «Miniabentür» des Künstlers deess. (Bild: PD)

Cham – Dieser Text ist in der Septemberausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln

Es herrscht Ordnung im «Atelier Rouge». In der Mitte des lichtdurchfluteten Arbeitszimmers steht ein leerer Tisch. Auf einer Ablage im Hintergrund wartet eine Nähmaschine, gestickt auf deren Schutzhülle aus Stoff ist das Wort «Love».
Der Feierabend naht in der Kunstwerkstatt an der Lorze. 
Textilkünstler Dave erzählt von seiner neusten Kreation, einem «Energie-Mantel». In diesem Kimono, beschrieben mit positiv besetzten Begriffen, werden im Rahmen eines Fotoprojekts des Luzerner Künstlers Patrick Blank diverse Personen abgelichtet. Dave sagt: «Ich versuche, Werke zu schaffen, aus denen andere Stärke ziehen können.» 
Der 43-Jährige arbeitet hier seit März 2014 als Künstler. Aktuell verbringt er zwei Tage die Woche im Atelier Rouge. «Wenn die Nähmaschine rattert, beruhigt mich das. Es ist meine Art der Meditation. Ich kann mehrere Stunden voll abtauchen in dieser Arbeit.»
Dave ist eine von mehr als 40 Personen aus der Zentralschweiz, die das Tagesstrukturangebot in Cham nutzen. Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen gehen hier einer künstlerischen Arbeit nach. 
Begleitet werden sie von einem siebenköpfigen Team, unterstützt von zwei Springer:innen. Das Angebot ist einzigartig in der Zentralschweiz, 2023 feiert es sein zehnjähriges Bestehen. Als Titel des Jubiläumsjahres hat der Trägerverein Kunst & Beeinträchtigung Innerschweiz (Kubeïs) «darüber hinaus» gesetzt. Damit ist gemeint: Es gibt mehr in der Kunst als das Schaffen von ausgebildeten Berufskünstler:innen. Und auch: Die Kunstwerkstatt wirkt über das Atelier hinaus. 

Viel Einsatz und günstige Umstände
Lukas Meyer, Co-Leiter der Kunstwerkstatt und verantwortlich für Betrieb und Dienstleistung, ist seit der Eröffnung in der Papieri Cham mit dabei. Er versichert: «Die Kunstwerkstatt macht weiter.»
Die Idee für ein betreutes Kunstatelier entstand bereits 2010 mit der Gründung von Kubeïs. Der Verein eröffnete 2013 den Atelierstandort als Zwischennutzung in Büroräumlichkeiten der ehemaligen Papierfabrik Cham. Der Kanton Zug hatte einmalig 385 000 Franken aus dem Lotteriefonds für eine zweijährige Aufbauphase gesprochen. Meyer: «Wir gaben vollen Einsatz, um die Betriebsbewilligung und Anerkennung als soziale Institution rasch zu erhalten. Nur so konnten wir das Bestehen finanziell langfristig sichern.» Sie erreichten ihr Ziel bereits ein Jahr später und sicherten dem Atelier so seine Zukunft.
Dass sich das Angebot der Kunstwerkstatt etablieren konnte, sei auch günstigen Umständen zu verdanken. 2014 ratifizierte die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention. 
Daraus liess sich ein zusätzlicher Anspruch für mehr und vielfältigere Tagesstrukturplätze ableiten. «Die damalige Zuger Regierungsrätin Manuela Weichelt machte sich stark für das Projekt. Das half uns sehr», so Co-Leiter Meyer. Heute ist die Kunstwerkstatt etabliert, über 100 Personen waren in den letzten 10 Jahren bereits hier tätig. Wer sich für einen Platz in der Kunstwerkstatt an der Lorze bewirbt, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Zwar ist keine spezifische Ausbildung nötig, aber es braucht Talent und den Willen, künstlerisch zu arbeiten. Die Künstler:innen sind IV-Bezüger:innen oder befinden sich im Anmeldeverfahren für eine Rente. Gleichzeitig darf kein pflegerischer Bedarf bestehen und die Bewerber:innen müssen sich in das soziale Gefüge der Gruppe einfügen können. 
«Wer bei uns arbeitet, muss recht selbstständig sein», sagt die für den Bereich Kunst zuständige Co-Leiterin der Kunstwerkstatt, Andrea Röthlin. «Bei uns wird nicht Beschäftigungstherapie betrieben, es ist ein Arbeitsplatz – wenn auch einer ohne Lohn.»

Für die Identität als Kunstschaffende
Es ist der Kunstwerkstatt wichtig, eine Berufsidentität als Künstler:in zu entwickeln. 
«Wir haben Ansprüche an die Werke, die hier entstehen», so Röthlin. Und weiter: «Viele hier würden sich selber nicht als Künstler:in bezeichnen. Dieses Selbstbewusstsein zu gewinnen, ist ein Prozess.» 
Röthlin ergänzt: «Zur Identität als Künstler:in gehört auch zu verstehen, dass nicht jeder erste ‹Wurf› bereits gelungene Kunst ist. Wir fördern den künstlerischen Prozess und die künstlerische Reflexion.» Dabei orientiere sich die Kubeïs-Kunst nicht an Trends oder dem Zeitgeist: «Unsere Künstler:innen schaffen Werke, die ganz nahe bei ihnen und ihrem Inneren liegen», so Röthlin.

Zurück im Atelier Rouge, das nach dem 2016 verstorbenen Künstler Fritz Roth benannt ist, der lange hier arbeitete. Gegenüber von Dave sitzt die Künstlerin Soxy, sie ist eine von sieben Personen, welche das Angebot seit dem ersten Jahr nutzen. Aktuell stellt sie eine Scherenschnittarbeit fertig, welche sie an der nächsten Ausstellung von Kubeïs zeigen wird. Das Werk sollte bereits fertig sein. «Ich habe unterschätzt, wie lange die Arbeit dauern würde», sagt sie. Sie war deshalb auch während der sommerlichen Betriebsferien im Atelier. «Es war angenehm ruhig und ich kam gut vorwärts.»

Input von externen Künstlerinnen
Scherenschnitte erfordern Präzision, eine ruhige Hand. Ein falscher Schnitt zerstört die ganze Arbeit. Für Soxy eine Herausforderung. «Ich bin eigentlich eher ungeduldig. Ich bleibe nicht gerne lange am Gleichen dran, ich liebe die Abwechslung.» Diese bietet ihr die Kunstwerkstatt, wo sie unterschiedliche Techniken ausprobieren kann. Fachbegleiter:innen und externe Künstler:innen bieten dazu regelmässige freiwillige Fachinputs an. «Ich mag es, mich immer neu herauszufordern», sagt Soxy. Was nach den Scherenschnitten komme, wisse sie noch nicht, sagt sie, an Ideen mangele es aber nicht.

Immer weiter gewachsen
Die Papieri Cham als Zwischennutzung ist für die Kunstwerkstatt ein Glücksfall. «Wir haben uns hier immer weiter ausgebreitet», sagt Andrea Röthlin lachend. Inzwischen misst die Arbeitsfläche der Kunstwerkstatt ganze 510 Quadratmeter für drei Mal mehr Kunstschaffende als zu Beginn. Während im Grossraumatelier verschiedene Tische aneinandergereiht sind, χ gibt es diverse kleinere Räume, in denen etwa Personen mit erhöhtem Ruhebedürfnis ungestört arbeiten können. Die Kunstwerkstatt verfügt über einen Brennofen, Räume für dreidimensionales Arbeiten, eine Druckstrasse sowie Lagerräume. 

Auf in die Zukunft
Der Mietvertrag ist auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, die Zwischennutzung endet aber voraussichtlich 2030. 
«Es wird dereinst eine riesige Knacknuss für uns, im Kanton Zug einen adäquaten Ersatz zu finden», so Co-Leiter Lukas Meyer. Es wäre der Organisation zu wünschen. Für die Menschen hier entwickelte sich die Kunstwerkstatt an der Lorze zu einem Hort der Geborgenheit und Sicherheit. So meint etwa Künstler Dave: «Die Kunstwerkstatt gibt mir Halt und ich tanke hier Kraft. Hier freue ich mich auf den Tag und auf die Menschen, die da sind.»


(Autor: Pascal Zeder)