Ganz ungereizt geniessen?
Dies & Das, Literatur & Gesellschaft
Judith Stadlin ruft wieder eine neue Lesereihe ins Leben. Eine, in welcher es bewusst darum geht, weniger zu tun. Sogar weniger Leute will sie dabei im Publikum haben – aus gutem Grund.
Zug – Dieser Artikel erschien in der Dezember-Ausgabe 2025. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.
Die Boxen summen, das Licht flackert, die Person auf dem Stuhl neben Ihnen hat im penetrantesten Parfüm gebadet – das hört sich nicht unbedingt nach einer entspannten Lesung an. Oder?
Doch während viele Menschen solche störenden Faktoren wie Gerüche und Geräusche gut ausblenden können, reagieren andere ein ganzes Stück empfindlicher. Hochsensibilität ist in der Gesellschaft weit verbreitet, auch Neurodivergenzen wie Autismus, ADHS und viele andere Arten, wie ein Gehirn funktioniert, weichen davon ab, wie man sich noch vor wenigen Jahren das «Normale» so vorstellte. Heute geht man davon aus, dass sich mindestens 20 Prozent der Bevölkerung im Spektrum der Neurodivergenzen bewegen. Und diese Menschen reagieren auf Störfaktoren oft sehr viel stärker.
Im Kulturbereich – wo sich übrigens sehr oft neurodivergente Menschen finden – werden aktuell immer mehr barrierefreie Angebote für unterschiedliche Bedürfnisse angeboten. Erstmals in Zug nun auf der Satz&Pfeffer-Lesebühne im Oswalds Eleven. Hier bringt Judith Stadlin ab Dezember die Novität der sogenannt «reizreduzierten Lesungen» auf die Bühne.
Mit gedimmtem Licht, mit mehr Platz zwischen den Stühlen, mit offenen Türen und ohne akustische Verstärkung. So dass sich alle wohlfühlen und sich ganz der Poesie des Vorgetragenen hingeben können. Die Idee dazu kam Stadlin nach einer Begegnung im Coop-Restaurant – doch dazu später mehr.
Arbeitsfeld Sprache
Judith Stadlin – wer sie nicht kennen sollte – ist in Zug aufgewachsen. Die Schriftstellerin, Spoken-Word-Bühnenkünstlerin, Schauspielerin, Regisseurin, Germanistin und Musikwissenschafterin, Sprecherin und Dozentin für Modern Dance und kreatives Schreiben hat in Zürich, Wien und Rom studiert. Sie ist auf den Bühnen solo und in Ensembles unterwegs und in ihrem Lebenslauf finden sich die unterschiedlichsten Projekte: Radiosendungen wie «Spasspartout» oder «PET» im DRS1, Leitung und Spiel in der Komischen Kellnerinnentruppe Les Serwös Nerwös, therapeutische Theater- und Stimmarbeit mit Sexualstraftätern in Regensdorf, Engagements im Tanztheater und Commedia dell’ Arte. Da sind Hörspiele, Bühnenprogramme, viele Theatertouren und Bücher natürlich. Vier an der Zahl, die sie allein geschrieben hat, elf Stück im Duo, mit dem Schriftsteller und Historiker Michael van Orsouw entstanden. Mit ihm teilt Stadlin nicht nur 22 Ehejahre und die 11 Bücher, sondern auch das schweizweit bekannte Kulturlabel Satz&Pfeffer – und die dazugehörige Lesebühne. Wenn man sich einen Überblick über Judith Stadlins Lebenslauf verschaffen will, es versucht und dabei verloren geht, dann wird eines schnell klar: dass diese Frau mit ihrer Energie und Kreativität auch etwas ausserhalb der «Normalität» liegt.
Überall Maschinenmusik
Nun aber zurück zur neusten Idee von Judith Stadlin. «Vor einigen Monaten ass ich im Coop-Restaurant Neustadt zu Mittag, als eine Zuschauerin auf mich zukam», erzählt sie. Und den Ort nennt sie nicht ohne Grund. «Es ist eines der wenigen Restaurants ohne musikalische Beschallung.» Deshalb sei sowohl sie als vermutlich auch diese Zuschauerin gerne dort. «Sie meinte, dass sie früher gerne ins Theater gegangen sei, auch sehr gerne zu uns ins Oswald Eleven, sie jedoch immer empfindlicher auf Lautstärke reagiere – und besonders den Ton von Boxen unangenehm empfinde.» Judith Stadlin war sofort Ohr. Denn auch sie reagiert sensibler, was Lärm und Gerüche angeht. «Wenn in Restaurants oder Läden Musik läuft, macht mich das nervös.» Sie sei auch schon gefragt worden, ob sie denn nicht gerne Musik habe, weil sie beispielsweise darum bat, diese leiser zu drehen oder ganz abzustellen. «Ich liebe Musik, war meine Antwort. Ich mache selbst Musik. Und genau deswegen möchte ich sie wirklich hören, mich darauf konzentrieren können – und nicht überall bedudelt werden», so Stadlin. «Am störendsten finde ich die immer gleiche Maschinenmusik, diesen sogenannten Loungesound.» Denn ja, Musik könne Emotionen transportieren, aber eben auch Emotionen und Rhythmus diktieren. Eine Verkäuferin im laut beschallten Geschäft habe ihr gesagt; Ach, sie höre das gar nicht mehr. Und sie: «Das ist doch nicht das Ziel von Musik!»
Sie als Künstlerin wolle auf diese Thematik nun Rücksicht nehmen. Und zwar mit vorerst zwei reizreduzierten Vorstellungen. Wichtig sei ihr dabei aber auch zu betonen, dass es keine Lesung ausschliesslich für Menschen mit Neurodivergenzen sein wird. Sondern eine für alle, die sich voll und ganz nur auf die Geschichte fokussieren wollen.
Eine perfekte Geschichte
Das Buch, das Judith Stadlin bei der ersten reizreduzierten Lesung vortragen wird, ist passenderweise eines, das sie selbst übersetzt hat: «De chly Prinz». Der Klassiker von Antoine de Saint- Exupéry in Zugerdeutscher Fassung entstand auf Initiative des Baeschlin-Verlags. Dieser liess eine Reihe von Klassikern in verschiedene Dialekte übersetzen – und fand für das Zugerische in Judith Stadlin die Spezialistin. «Ich kannte das Buch natürlich. Mich aber so intensiv neu damit auseinanderzusetzen, war toll», sagt sie. Erstens sei es wunderschön geschrieben, zweitens nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene eine tolle Geschichte – moralisch, psychologisch, politisch, philosophisch. «Man blickt dabei mit einem gesellschaftlich unverdorbenen Blick, in ganz einfachen Bildern auf die Welt und auf menschliche Archetypen», sagt Judith Stadlin. «Durch diesen naiven Blick hält uns der kleine Prinz den Spiegel vor und zeigt uns, wie fragwürdig und seltsam so vieles doch ist, das wir gar nicht mehr hinterfragen.» Narzisstische, despotische und sonst wie problematische Figuren wie die des materialistischen Geschäftsmanns, des herrschsüchtigen Königs oder des Laternenanzünders, der strikt und stier Dienst nach Vorschrift tut – egal ob sein Tun längst nicht mehr mit der Realität zusammenpasst. «Gewisse Figuren erinnern an so einige mächtige Männer unserer Zeit», so Stadlin. Und man braucht leider nicht weiter nachzufragen.
Zurück im Rhythmus
Dass diese neue Art der Lesung wie so viele Veranstaltungen von Stadlin und van Orsouw im Oswalds Eleven stattfinden kann, das sie 2007 gründeten, ist nicht selbstverständlich. 2022 schlossen die Türen und es sah aus, als müsste die Lesebühne nach 15 Jahren aufgeben. Der Grund, der in der Zuger Kulturszene und darüber hinaus zu vielen Diskussionen und Schlagzeilen führte: Pandemiebedingte Umbauarbeiten wollte der Regierungsrat trotz anderweitiger Signale im Vorfeld schliesslich doch nicht übernehmen. Investiert jedoch war bereits, 97000 Franken Schulden schienen am dahinter stehenden Verein hängen zu bleiben. Dann jedoch kam die Wende und über hundert Privatpersonen spendeten bis zu 10000 Franken. Kuverts mit Geld landeten anonym im Briefkasten und auch die Versteigerungsaktion von Stücken aus Stadlins Theaterfundus «Bitzeli Batzeli» half, das Defizit zu verkleinern. Der Trägerverein konnte den Schuldenberg schliesslich abtragen, die lokalen Handwerker bezahlt werden. «Gerade erst, am 11.11.2025, haben wir den 18. Geburtstag vom Oswalds Eleven gefeiert und damit die neue Staffel begonnen», erzählt Judith Stadlin und ergänzt: «Wir waren ausverkauft mit Wartelisten – es ist wieder wie vor Covid und wir sind extrem dankbar und froh darüber.» Am 4. Dezember und am 29. Januar werden beim «Chlyne Prinz» auf Zugerdeutsch jedoch höchstens 30 Plätze besetzt werden. Reduziert eben.
Text: Jana Avanzini
