Der Bundesrat als Erzähler
Literatur & Gesellschaft, Brauchtum & Geschichte
Philipp Etter war einer der prägendsten Schweizer Bundesräte des 20. Jahrhunderts. Seine Biografie ist umfangreich aufgearbeitet. Dennoch ist wohl weniger bekannt, dass der Menzinger auch schriftstellerisches Talent hatte.
Menzingen – Sagen und Legenden ranken sich um die verfallenen Gemäuer der Wildenburg, jener Spornburg aus dem 13. Jahrhundert auf dem schmalen Fels hoch über dem Lorzentobel. Der mystische Ort atmet Geschichte, auch wenn diese zu einem grossen Teil im Dunkeln liegt. Gewiss ist, dass die Burg von einem Zweig der Herren von Hünenberg gegründet worden ist. Nach nicht mal zwei Jahrhunderten waren die trutzigen Mauern wieder verlassen und fielen dem Zerfall anheim.
Die geheimnisvolle Aura, welche die Mauerreste bis heute umgibt, hat keinen geringeren als Philipp Etter (1891–1977) in ihren Bann gezogen. Der Menzinger war mit seiner 25-jährigen Amtszeit als Bundesrat und viermaliger Wahl zum Bundespräsidenten einer der herausragenden Schweizer Politiker des 20. Jahrhunderts. Talent hatte der Zuger nicht nur als eloquenter Redner, sondern ebenso als Schreibender.
So widmete er 1955 – damals schon lange gestandener Politiker – der sagenunumwobenen Burgruine unterhalb seines Heimatdorfes eine Erzählung, welche er in der Folge im Eigenverlag publizierte. Es erstaunt nicht, dass das Büchlein innert Kürze vergriffen war. Viele davon hat Etter mit einer persönlichen Widmung versehen, in sauberer Handschrift.
Ein Verbrecher kriegt, was er verdient
Etters Erzählung handelt von Ritter Hartmann, dem letzten Herr über die Wildenburg und Bruder Rudolfs von Hünenberg, Schlossherr zu St. Andreas. Hartmann ist ein übler Kerl, der seine Macht in jeder Hinsicht ausnutzt. Der Garstige nimmt sich, was er will, unterjocht das Bauernvolk, überfällt rechtschaffene Pilger – und vor allem stellt er dem liebreizenden Anneli Elsener vom Rotenbach nach, Angetraute seines persönlichen Wildhüters Baschi vom Hofe Wulflingen.
Um der hübschen jungen Frau habhaft zu werden, ersinnt Hartmann einen finsteren Plan. Gemeinsam mit Baschi bricht der Raubritter auf zur Jagd, um endlich den Zwölfender zu erledigen, der ihnen bisher wiederholt entwischt ist. Baschi gelingt jetzt der erfolgreiche Speerwurf. Hartmann nutzt den Moment und stösst Baschi hinterrücks über den Fels in den Tod. Schliesslich entführt Hartmann das verzweifelte und nun verwitwete Anneli auf seine Burg.
Nun aber hat das Volk genug. Die Bauern und Knechte ziehen den weisen Rat des Bauern Hegglin ab Schurtannen herbei und schmieden einen Plan, an ihrem Peiniger Rache zu üben. In der Nacht stürmen sie die Wildenburg. Der Wüstling erhält seine gerechte Strafe, wird in die Tiefe geschmettert und Anna gerettet. Es ist des Wildenburgers letzte Nacht. So lautet denn auch wortwörtlich der Titel von Etters Erzählung.
Wortgewandte und poetische Schilderungen
Im Anschluss liefert Etter eine weitere, noch viel kürzere Erzählung vom «Langen Stoffel» an, die von einem geflohenen Zuger handelt, der sich in französische Dienste gibt und schliesslich ungewollt bei Rothenthurm gegen sein eigenes Volk kämpfen soll. Auch hier nimmt das Schicksal eine gute Wendung.
Philipp Etter erweist sich auf diesen insgesamt gerade mal 35 Seiten als begabter Schreiber. Er bedient sich bewusst antiquierter Ausdrücke und Ortsbezeichnungen, schildert poetisch und wortgewandt, überzeugt mit so manchen schriftstellerischen Qualitäten. Es ist ein kleines, aber feines Stück Zuger Literatur, welches in seiner Gestalt als limitierte Originalausgabe heute Seltenheits- und Sammlerwert hat. Die Geschichten vom letzten Wildenburger und vom langen Stoffel sind 1963 im Rahmen der populären Kinder- und Jugendliteratur-Reihe vom Verlag SJW in einer Neuauflage erschienen, mit Illustrationen von Werner Andermatt (1916–2013). (Text von Andreas Faessler)