Einst Heim, heute Bildungszentrum

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Dörfer im Wandel: An der Leihgasse 9 brachte die Spinnerei Baar ihre jungen Arbeiterinnen – die Mehrzahl Italienerinnen – unter. 1976 erwarb die Fokolar-Bewegung das Heim.

  • Im 1902 gebauten Mädchenheim (1. Bild) wurden 100 Arbeiterinnen untergebracht. Heute wird an der Leihgasse 9 Toleranz und Respekt vermittelt. (Bilder PD/Stefan Kaiser)
    Im 1902 gebauten Mädchenheim (1. Bild) wurden 100 Arbeiterinnen untergebracht. Heute wird an der Leihgasse 9 Toleranz und Respekt vermittelt. (Bilder PD/Stefan Kaiser)

Baar – Ihre Gebäude prägen Baar noch immer – doch nicht alle haben die Zeit überdauert. Die Rede ist von der Spinnerei an der Lorze. Entstanden während des Booms in der Schweizer Textilindustrie und mit 62000 Spindeln zeitweise die grösste Baumwollspinnerei der Schweiz, veränderte der neue Industriezweig das Dorf Mitte des 19. Jahrhunderts massgeblich.

Nicht nur baulich, sondern auch gesellschaftlich, denn die Spinnerei lockte zahlreiche ausländische Arbeiterinnen nach Baar. Und diese galt es unterzubringen – dafür baute das Unternehmen 1902 ein Mädchenheim für 50 Arbeiterinnen an der Leihgasse 9. Wer heute vor dem Fokolar-Zentrum an der Abzweigung zur Heidengasse steht und auf den Gebäudekomplex blickt, kann sich auch mit viel Fantasie nur schwer vorstellen, dass früher teils über 100 junge Italienerinnen auf engem Raum gewohnt haben.

1911 beschwerte sich der italienische Konsul

1884 regte die Direktion an, ein fabrikeigenes Heim für ledige Arbeiterinnen zu erreichten. Die jungen Frauen, viele von ihnen noch nicht volljährig, wurden von Ordensschwestern betreut. Im Betrieb gab es auch Herausforderungen, wie der Verwaltungsrat der Spinnerei damals berichtete. Es sei «ungemein schwer, die Mädchen an das geregelte und ordentliche Leben in diesem von Ordensschwestern geführten Heim zu gewöhnen».

Bereits wenige Jahre nach der Eröffnung vergrösserten die Verantwortlichen das Wohnheim, indem sie die Nachbarliegenschaft hinzunahmen. 1911 gab es Probleme, weil sich der italienische Konsul über die Spinnerei beschwerte. Er habe Klagen über die Unterbringung der Arbeiterinnen vernommen. Schnell führte das Polizeiamt Baar eine Untersuchung durch, die Spinnerei aber bestritt alle Vorwürfe. Die Frauen seien mit Kost und Logis «in jeder Hinsicht zufrieden». Die Kontrolle der anderen Italienerinnen, die bei Verwandten oder Bekannten wohnten, sei nicht möglich, gestand die Direktion ein.

Das Mädchenheim ist nicht das einzige Gebäude, das für die Arbeiterschaft errichtet wurde. Als Zeugen der Baarer Industriegeschichte stehen noch heute am Lorzendamm die Höllhäuser, gebaut 1861 und in den Folgejahren. Die Spinnerei vermietete ihren Angestellten die Wohnungen sehr günstig. Nicht ganz uneigennützig, denn die Führung glaubte, ihre Arbeitskräfte so noch besser an sich binden zu können und die Fluktuation gering zu halten. Zudem setzte die Spinnerei die Wohnmöglichkeiten als Argument auf dem Arbeitsmarkt ein. Als die grosse Fabrik um 1860 ihren Vollbetrieb aufnahm, beschäftigte sie über 600 Personen. Neben den Häusern für die Werktätigen bauten die Spinnerei-Verantwortlichen auch Villen für die Mitglieder der oberen Chefetagen. 1872 entstand eine Industriellenvilla an der Langgasse – von hier aus hatten die Bewohner den besten Überblick über das Fabrikgeschehen – und 1880 jene in der Burgweid, die als besonderes Prunkstück gilt und an Herrschaftshäuser im Baumwollgürtel im Süden der USA erinnert.

Rund um die Spinnerei entstanden nicht nur Wohnhäuser, sondern quasi ein neues Quartier. Es wurden etwa Wirtschaften und die Brauerei Baar gebaut und 1866 kam die protestantische Kirche dazu. Es war die erste in der katholischen Zentralschweiz.

Heute dient die Anlage für Kurse und Konferenzen

An der Leihgasse 9 wurde 1920 ein massiver Neubau erstellt und 1947 ein Anbau. Nach dem zweiten Weltkrieg nahm die Belegung des Heims deutlich zu, sodass 1958 und 1959 ein aufwendiger Umbau erfolgte und die Anlage nun für 150 Mädchen Platz bot. Heute ist der Komplex im Besitz der Fokolar-Bewegung, die das Heim 1976 erwarb und zu einem Bildungszentrum machte. Es folgten weitere An- und Umbauten. Im Zentrum Eckstein, zu dem auch ein Hotel gehört, finden seitdem Kurse, Konferenzen und Tagungen statt. Ziel der internationalen und ökumenisch tätigen Bewegung ist es, Werte wie Respekt und Toleranz zu stärken und einen Beitrag für mehr Geschwisterlichkeit und Einheit zu leisten.

Der Spinnerei-Betrieb in Baar wurde Mitte der 1990er-Jahre eingestellt. Ihre Geschichte wirkt bis heute nach. (Rahel Hug)

Hinweis
In dieser Serie stellen wir Dorfansichten aus Zuger Gemeinden und ihren Wandel über die Zeit vor. Quellen: Online-Plattform Industriegeschichte Zug, Industriepfad Lorze; Ortsgeschichte Baar – Band 2, Von Spinnern und anderen Baarern.