«Ich mag die Kargheit der Lyrik»

Literatur & Gesellschaft

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Gianna Olinda Cadonau schätzt an Gedichten die Konzentration auf das Wesentliche und das Darunterliegende. Die Bündnerin indischer Abstammung stellt ihr Buch in Zug bei «Literatur kompakt» vor.

  • «Und die Sterne lachen leise.» Gianna Olinda Cadonau verpackt Gefühle in preiswürdige Wortbilder. (Bild Yanik Bürkli/Bündner Tagblatt)
    «Und die Sterne lachen leise.» Gianna Olinda Cadonau verpackt Gefühle in preiswürdige Wortbilder. (Bild Yanik Bürkli/Bündner Tagblatt)

Zug – Heute um 18 Uhr beginnt im Theater im Burgbachkeller die fünfte Ausgabe von «Literatur kompakt». Aus den vier Sprachregionen der Schweiz sind je drei Schreibende eingeladen. Wir haben mit Gianna Olinda Cadonau gesprochen, 1983 in Indien geboren und in Scuol in Graubünden aufgewachsen. Cadonau verfasst Lyrik in Rätoromanisch und Deutsch. Ihr Gedichtband «Letzte Stunde der Nacht» ist 2017 mit dem Terra-Nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet worden.

Sie kamen als Baby aus einem Waisenhaus in Goa zu einem Lehrerehepaar nach Scuol. Mit welchen Sprachen wuchsen Sie auf?

Gianna Olinda Cadonau: Meine Mutter redete Schwyzerdütsch mit mir, der Vater Rätoromanisch. Ich mag die rätoromanische Sprache sehr. Sie ist klangvoll und ähnelt dem Italienischen. Ich erinnere mich, als Kind sehr stolz auf diese Sprache gewesen zu sein. Mein fünfjähriger Sohn Ramun wächst heute mit drei Sprachen auf: meinem Rätoromanisch, dem Hochdeutsch seines Vaters und dem Schwyzerdütsch aus dem Kindergarten in Chur.

Suchten Sie je nach Ihren Wurzeln in Indien?

Ja, wobei es eher Spurensuche war als Suche nach den leiblichen Eltern. Die Umstände im Kinderheim in Goa interessierten mich. Ich werde sicher wieder nach Indien reisen, um da weiter zu suchen. Meine leiblichen Eltern fand ich bisher nicht.

Spürt man die andere Kultur in sich?

Das bedingt sich vor allem durch die Aussenwahrnehmung. Ich werde immer wieder auf Englisch angesprochen, weil ich nicht europäisch aussehe. In Scuol allerdings war ich stets die Tochter vom Lehrer Melcher. Auf meinen Indienreisen wiederum habe ich gemerkt, dass das Äussere mich dort zugehörig macht. Dass ich andererseits aber auch europäisch sozialisiert bin. Inder gehen anders auf Menschen zu, sie sind nie allein. Sie schauen einem direkt in die Augen und sprechen viel miteinander. Es gibt Millionen von Interaktionen. Fährt man Zug in Indien, wird man sofort gefragt, woher man kommt und wohin die Reise geht.

Ihre Lyrik behandelt eindringlich die Themen Fremde und Heimat. Fühlten Sie sich jemals fremd in Graubünden?

Fremd ist vielleicht das falsche Wort. An einem gewissen Punkt hatte ich einfach das Bedürfnis, Dorf und Tal zu verlassen, in eine Stadt zu ziehen und die Welt zu erobern – so wie viele junge Menschen das machen. Was weniger meinen indischen Wurzeln geschuldet war, sondern mehr mit der kleinräumigen Umgebung zu tun hatte, in der ich aufwuchs. Aber Scuol ist nach wie vor Heimat und Zuhause für mich.

Wie poetisch ist Graubünden?

Das Unterengadin ist ein liebliches Tal. Das Klima ist mild, und alles ist nach Italien hin ausgerichtet. Die Berge und die unberührte Natur haben mich immer fasziniert. Ich würde sagen, eine besondere Landschaft verleitet dazu, sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen. Von ihr geht eine Kraft aus, die einen reflektieren lässt.

Ist diese Landschaft auch Grund dafür, sich für Lyrik und nicht etwa Epik entschieden zu haben?

Ich schreibe auch Prosa. Aber ich mag die Kargheit der Lyrik. Das Weglassen von allem, was nicht die Essenz betrifft – die Konzentration auf das Wesentliche und das Darunterliegende. Mit Gedichten verhält es sich ein bisschen wie mit Comics – welche Ausschnitte muss man zeigen, um Stimmung zu kreieren?

Wer liest heute noch Lyrik?

Ich denke, ganz unterschiedliche Menschen – aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Was macht Gedichte aus?

Gedichte gehen ohne Umwege ins Ziel. Sie sind aber auch eine Gegendynamik zur Hektik unserer Zeit – sie bieten einem ein Verweilen mit wenigen Zeilen. Ein Stück weit entsprechen sie auch dem Spoken-Word-Zeitgeist, ein Gedicht ist sehr frei. Und die effiziente Kurzform liegt im Trend.

Ihre Gedichte sind im Band «Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht» auf Deutsch und Rätoromanisch zu lesen. In welcher Sprache schrieben Sie sie zuerst?

Meist schreibe ich sie simultan, das ist sehr inspirierend. Die beiden Sprachen schleifen sich gegenseitig. Es ist sehr spannend, in zwei Sprachen zu schreiben.

Was erwarten Sie sich von der Teilnahme am Festival «Literatur kompakt»?

Ich freue mich sehr auf den Austausch mit den anderen Autorinnen und Autoren, die zum Teil ja auch in anderen Sprachen schreiben. Es ist stets inspirierend, sich auszutauschen. Zu hören und zu lesen, was andere verfassen. (Interview: Susanne Holz)

Hinweis

Alle Infos zum Programm unter www.literarische.ch