Grenzen einer Person

Kunst & Baukultur, Dies & Das

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Mitarbeitende von Zuger Institutionen erzählen über ihr Lieblingskunstwerk.

  • Sandra Bucheli gefällt die Irritation. (Bild PD)
    Sandra Bucheli gefällt die Irritation. (Bild PD)

Cham – Dieser Artikel ist in der Ausgabe April 2021 des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den weiteren Berichten über Lieblingskunstwerke.

Sandra Bucheli, Kunstwerkstatt an der Lorze, Cham

«Die französische Künstlerin Sophie Calle findet im Juni 1983 auf der Strasse ein abgenutztes Adressbuch, das Pierre D. gehört. Sie nimmt es an sich, kopiert es und sendet das Original an den Besitzer. Die Idee zum Kunstwerk ‹Das Adressbuch› ist geboren. Sophie Calle beschliesst, die im Büchlein verzeichneten Personen anzurufen, zu treffen und sie nach ihrer Beziehung zu Pierre D. zu befragen. Die Identität von Pierre D. nimmt innerhalb dieses Diskurses jeden Tag etwas mehr Form an, sie wird von aussen rekonstruiert. In der Zeitung ‹Libération› schreibt Calle eine Kolumne, in der sie ihre Auseinandersetzung mit dem Adressbuch dokumentiert.

Irritation als künstlerische Technik
Calle erzählt keine Geschichten, sondern sie produziert sie, so wie man Dokumente herstellt, um erlebte Augenblicke und Dinge zu bezeugen. Die Geschichten, die sie umsetzt, haben die Besonderheit, dass die Kunst und die Wirklichkeit dafür Pate gestanden haben. Ihre Texte integrieren reelle und fiktive, subjektive und objektive Aspekte und das bis zu einem Punkt, an dem es unsinnig wird zu versuchen, deren Anteile auseinanderzuhalten. Sophie Calle hört nicht auf, das eine mit dem anderen in einem instabilen Gleichgewicht zu assoziieren. Die Irritation mischt sich ein: Sie erfindet ihr Leben und das der anderen – und beweist es.
So konstruiert Calle eine geheimnisvolle Atmosphäre, als ob es um die Auflösung eines Rätsels ginge. Sie macht das Spiel mit, das Publikum lässt sich auf das Spiel ein, in Erwartung einer Auflösung oder einer Enthüllung. Aber nichts offenbart sich – ausser den Beziehungen der Zuschauenden mit dem, was sie in den Notizen lesen, und der Position, die sie zu diesen ‹Zeugnissen› einnehmen. Sophie Calle provoziert ein Unbehagen zwischen dem Sehen und dem Interpretieren.
Die Arbeiten von Sophie Calle reizen die Auslegung. Diese wahren oder falschen Geschichten verführen uns. Es geht darum, etwas Unsichtbarem eine äussere, lesbare Gestalt zu geben.»

«Das Adressbuch» von Sophie Calle
Deutsche Ausgabe der gesammelten Kolumnen,
«Das Adressbuch», Verlag Suhrkamp, Band 1510